Kinder haben Sternchen gern – Sternchen ist das Kind vom Stern, hatte Henri Nannen dichten lassen. Das Sternchen war in den fünfziger Jahren die Kinderbeilage der Zeitschrift Stern. Da gab es auch Loriot mit Reinhold dem Nashorn. Natürlich gab es auch einen Sternchen Club mit Ausweis und Anstecknadel, unsere halbe Klasse war im Sternchenclub. Und dann gab es diese Späher Hefte, in die man eintragen konnte, wann man welche Autos auf der Straße gesehen hatte. Dies Mercedes Coupé war leicht zu finden, es stand bei uns in der Straße, ich ging jeden Morgen auf dem Weg zur Schule dran vorbei.
Manche sah man natürlich nie. Wie zum Beispiel das viertürige Cabriolet vom Mercedes 300 S. Eins habe ich mal gesehen, stand am Grenzkontrollpunkt Helmstedt. Es saß eine vierköpfige Familie drin, alle trugen Trenchcoats, Ledermützen und goggles. Cool. Als ich den cremebeigen 300er sah, war ich schon zu alt für den Sternchen Club, ich hätte ihn nicht mehr in das Späher Heft eintragen können. Hätte ich das kleine Büchlein mit den erspähten Autos heute noch, es wäre inzwischen wirklich etwas wert.
Wenn man 1960 schwerbepackt bei Gegenwind mit dem Fahrrad durch Dänemark radelt, dann wird man schon neidisch auf diesen jungen Mann, der da in einem offenen MG an einem vorbei rauscht. Vielleicht sogar neidisch auf den Typ mit der Vespa, der fünf Photoapparate umgehängt hatte. Und diese hübsche Blondine auf dem Rücksitz hatte, mit der er zum Strand abbog. Es ist mir erst Jahre später klar geworden, dass der Typ nur am späten Nachmittag zum Strand fuhr, um Photos für eins der dänischen Pornomagazine zu machen. Also diese Sache, die auch in ✺Kressin stoppt den Nordexpress vorkommt, wenn der Zollfahnder mit Gitte einen derartigen Laden besucht (Sie können den Film in ganzer Länge sehen, wenn Sie den Titel anklicken). Der Bösewicht Ivan Desny fährt natürlich einen Rolls Royce). Dänemark war damals voll von hübschen Blondinen. Und dank der Bindung an die EFTA voll von englischen Autos. Man wusste beim Gucken gar nicht, wofür man sich entscheiden sollte, für Autos oder blonde piger.
Man träumt ja immer von Autos, die man nie bekommt. Wie dem weißen Facel Vega, der auf dem Osterdeich stand, wenn ich zum Weserstadion marschierte, um die Helden meiner Jugend zu sehen. Wenn der da stand, gewann Werder immer. Oder dieser Rolls Royce mit Pariser Nummernschild, der plötzlich in der Nacht um drei auf dem Forstweg an mir vorbeiglitt, als ich von Ako Amadis Abschiedsparty nach Hause marschierte. Er war so leise, dass man verstand, dass die Firma einmal Modelle auf die Namen Ghost oder Phantom taufte. Einen Rolls Royce gab es in fünfziger Jahren in Bremen nicht. Nur der Werftbesitzer Ernst Burmeester hatte einen dunklen Bentley, ein Rolls wäre ihm zu prollig gewesen. Aber dafür besaß er mit der Ashanti VI die größte deutsche Hochseeyacht.
Auf der Abiturfeier habe ich damals vollmundig verkündet Wenn ich dreißig bin, fahre ich einen Jaguar, British racing green mit roten Lesersitzen. Ich war schon ziemlich angeschickert. Glücklicherweise war der Klaus, mit dem ich gewettet hatte, noch betrunkener als ich. So hat er den Kasten Sekt bis heute nicht eingefordert.
Natürlich hatte ich mit dreißig keinen Jaguar, da war ich gerade von meinem NSU Prinz auf einen weißen Peugeot umgestiegen. Immerhin waren die Instrumente von Jager LeCoultre. Heute fahre ich den dritten Golf, ich bin von diesen Autoträumen geheilt. Mein Bruder offensichtlich nicht. Nachdem er eine schlimme Phase mit englischen Sportwagen hatte (lesen Sie doch hier einmal alles über seinen TVR), schien auch er vernünftig geworden zu sein. Aber dann schickte er mir letztens eine Mail, in der nur Morgan LeMans 62 stand. Ich frage erstmal lieber nicht nach.
Peter Ustinov, der sicherlich ein klein wenig autoverrückt war (lesen Sie hier mehr dazu), hat einmal (ich glaube, das ist auf der CD Vorurteile) erläutert, warum er keinen Rolls Royce habe: er würde dann den ganzen Tag nur hinter den Fenstervorhängen lauern und Wache halten, dass auch ja niemand seinen Rolls berührt. Er hat seine automobile Karriere (car-riere) mit einem Fiat Topolino begonnen, danach hatte er ein Lancia Aprilia Eagle Cabriolet. Kaufte sich dann einen Jowett Jupiter, es geht mit den Autos immer weiter nach oben. Wir verdanken Sir Peter auch den wunderbaren Satz: One drives, of course, an Alfa Romeo. One is driven in a Rolls-Royce, but one only gives a Delage to one's favorite mistress. Das hier ist ein Delage D8-120 aus dem Jahre 1937. Welche Frau hat solch ein Auto verdient?
Später erwarb Ustinov den Hispano Suiza aus dem Jahre 1934 (hier im Bild). Der ihm prompt in London gestohlen wurde. Ustinov beauftragte eine Detektei, die den Wagen schließlich in Frankreich fand. Aber er hat ihn nach zehnjährigem Gerichtsstreit (It was a nightmare and a farce) nicht zurückbekommen: The judge told my lawyer that he felt deep compassion for Ustinov, for the injustice he had received because the law was correctly interpreted. He was careful not to put that in writing, of course. But the outcome was predictable. Napoleon rewrote French law to justify his own thefts, and the French don't like anyone other than Frenchmen owning the best car they ever made. Der einzige Hispano Suiza, in dem ich gefahren bin, hieß HS 30 und war ein Schützenpanzer. Ich glaube, das zählt jetzt nicht.
Wenn ich in einem Luxuswagen sitzen will, dann frage ich meinen Freund Keith, ob ich mal in einem seiner Autos sitzen darf. Der Keith (hier in einem Capalbio Maremma Jackett, das inzwischen wie seine Oldtimer schon Sammlerwert hat) besitzt sie alle: Ferrari, Jaguar E Type, Daimler Double Six, Rolls Royce, Bentley undsoweiter. Und einen Morgan, der mal Brigitte Bardot gehört hat. Nur einen englischen Bristol, den hat er noch nicht. Auch wenn ich kein Autoverrückter bin, gucke ich den Traumwagen immer noch hinterher. Wobei diese Wagen eigentlich immer Wagen sind, die alle keinen Abgastest des TÜV bestehen würden weil sie aus dem goldenen Zeitalter des Automobildesigns stammen. Heute sehen die ja beinahe alle gleich aus, sind eher Albtraumwagen als Traumwagen.
Ich habe heute natürlich ein Gedicht, das mit Autos zu tun hat. Es stammt von Harald Hartung, dessen Gedichtband Das gewöhnliche Licht aus dem Jahre 1976 mir letztens im Antiquariat in die Hände fiel. Die Witwe des im November verstorbenen Kieler Hans-Jürgen Heise hatte offensichtlich eine Vielzahl von Rezensionsexemplaren und Geschenken von Gedichtbänden ins Antiquariat getragen, die ich natürlich sofort kaufte. Und dadurch einige Dichter kennenlernte, die ich bisher nicht kannte.
Von Harald Hartung kannte ich nur seine Aufsätze zur Literatur (er schreibt sehr gut über Literatur) und den schönen Band Luftfracht, der in der Anderen Bibliothek erschienen war und eine Fortschreibung von Enzensbergers museum der modernen poesie war. Hat mir Volker damals geschenkt, ich weiß gar nicht, womit ich das verdient hatte. Aber nun hatte ich Das gewöhnliche Licht in den Hand. Und nicht nur das, es lagen Briefe und Ausschnitte von Rezensionen aus dem Jahre 1976 in dem Buch. Nachdem ich den Rest des Tages Das gewöhnliche Licht gelesen hatte, war ich am nächsten Tag wieder bei Eschenburg und kaufte alles von Harald Hartung. Es wäre ja nun verlockend, aus den Briefen und Briefentwürfen, die in den Gedichtbänden lagen, etwas zu zitieren. Aber ich käme dabei wie ein Voyeur vor, das geht nicht. Doch diese (leider nicht zitierfähige) Innenansicht aus dem Gespräch zweier Dichter ist natürlich faszinierend. Was schreiben sie sich? Wie gehen sie miteinander um?
Das erste Gedicht, das mich in dem Band Das gewöhnliche Licht faszinierte, hieß Schmalfilm. Das stelle ich mal eben hier hin, da ich Leute kenne, die jedes Jahr ihren Urlaub in Finnland verbringen:
Zuerst der See in verschiedenen Ansichten
das Holzhaus am Hang etwas tiefer die Sauna
jemand rudert in einem Boot die Kamera
holt ihn ganz nah heran er ist nackt und bald sind
es die Frauen auch zuerst zuerst noch als weiße und
braune Körper auf Decken auf Luftmatratzen
dann in Bewegung wie fliehend das Auge
der Kamera ist immer auf ihnen während
die Landschaft grün verwischt dann auch die Männer
ungeschickt schlenkernd was einzig fremd ist
an ihnen und schließlich alle mit sehr angezogenen
Gesichtern beim Kartoffelschälen beim Essen
eine Horde von gutmütigen Wilden. Dann
hattet ihr einen schönen Urlaub in Finnland.
Ein Punkt, zwei Sätze, ein ganzer Sommer. Perfekt. Harald Hartung ist ein Dichter, den es unbedingt zu lesen lohnt. Seine gesammelten Gedichte aus den Jahren 1957 bis 2004 sind im Jahre 2005 unter dem Titel Aktennotiz meines Engels in dem sehr rührigen Wallstein Verlag erschienen. Die Gedichtbände der siebziger Jahre waren noch in dem kleinen, aber feinen Neske Verlag in Pfullingen erschienen, der einmal James Joyce in Übersetzung herausbrachte (aber auch Heidegger und Ernst Jünger zu seinen Autoren zählte). Im Klappentext von Aktennotiz meines Engels heißt es: Jenseits jeden Marktgeschreis, unbeirrbar durch Tagesmoden, geht der Lyriker Harald Hartung seinen eigenen Weg. Seine Gedichte aus über vier Jahrzehnten sind ebenso raffinierte wie unaufdringliche Gebilde. Sie fassen die Wirklichkeit in Schnappschüsse, doch im Blitzlicht leuchtet ein Hintersinn auf. Sie holen die Historie als Krieg, Nachkrieg und Gegenwart in die persönliche Geschichte und zeigen die Parzen in der Fußgängerzone. In kunstvollem Übermut verwandeln sie alte Formen in neue Verfremdungen und lassen Trauer in Ironie, Witz in Empfindung umschlagen. Sie tarnen sich als "arme Kunst" und zeigen einen Reichtum der Töne. Besser kann man es nicht sagen.
Als die Frankfurter Allgemeine ihrem langjährigen Feuilletonisten vor zwei Jahren zum achtzigsten Geburtstag gratulierte, schrieb Felicitas von Lovenberg: Als 2005 mit „Aktennotiz meines Engels“ eine Summe seines bisherigen Werks erschien, konnte man sich nicht sattlesen: von federleicht hingetupften Reisebeobachtungen über sinnlich heraufbeschworene Kindheitserinnerungen an Rübenkraut auf Graubrot, Luftschutzkeller und das Kriegsende bis zu Spots auf Rätselhaftes und Bemerkenswertes der politischen und ästhetischen Entwicklung der Bundesrepublik reicht das Spektrum.
Lassen Sie uns mit dem Dichter einen Sprung zurück in die siebziger Jahre machen. Als es noch Parkplätze gab und das Benzin noch billig war. Und die Autobahnen noch leer waren. Als man noch für fünfhundert Mark einen alten ÄrrVier kaufen und ihn einer Frau mit Stupsnase und Sommersprossen schenken konnte. Aus dem Gedichtband Augenzeit von 1979 stammt das Gedicht Dem schnelleren Fahrer (zum 10. Geburtstag) von Harald Hartung:
Unsere Gespräche bei Hamburger
oder Pizza: Kaufst du einen Porsche
kauf ich mir einen Mercedes, wetten
wer schneller ist? wart noch ein wenig erst
schenk ich dir 'Alle Rennstrecken der Welt'
Du fährst sie mit dem Finger nach und fährst
wie Niki Lauda (nur vorsichtiger)
fährst mir davon
ich glaub es dir jetzt schon
Irgendwo klingt da noch Janis Joplins Oh Lord, won't you buy me a Mercedes Benz ? My friends all drive Porsches, I must make amends mit: Kaufst du einen Porsche kauf ich mir einen Mercedes. Dazu hätte ich natürlich gerne ein Video hier eingefügt, aber das Original mit Janis Joplin gibt es nirgends, nur Cover Versionen. Mercedes hat das sogar 1995 mal als commercial verwendet. Das ist zwar ein bisschen Pervers, aber irgendwie auch sehr komisch. Klicken Sie ✺hier.
Träume von Autos, Träume vom schnellen Fahren. Die Dichter begleiten die automobile Welt seit mehr als einem Jahrhundert. Obgleich es die Maschinen schwer hatten, von den Dichtern besungen zu werden. Lord, send a man like Robbie Burns to sing the Song o' Steam, sagt der schottische Schiffsingenieur in Kiplings McAndrew's Hymn. Da sind wir noch im 19. Jahrhundert. Aber schon ein Jahrzehnt später schreibt Marinetti in seinem Manifest des Futurismus: Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake. Doch mit den Träumen vom schnellen Fahren ist es heute zu Ende, so schöne Gedichte wie Shapiros Buick werden nicht mehr geschrieben. Was uns bleibt, ist der Stau:
Gestern im Stau
erzählten wir uns unser Leben zwei Männer und eine
ehemals schöne Frau
Versteht sich daß ein jeder vergaß
was er als sein Leben ausgab und gestern
verschwendete
Als Hartung achtzig wurde, legte er (wiederum bei Wallstein) den Essayband Der Tag vor dem Abend: Aufzeichnungen vor. Da hat er auch über seinen Sohn Stefan geschrieben, dem er den Gedichtband Arme Kunst gewidmet hat. Und für den er damals zum zehnten Geburtstag das Gedicht Dem schnelleren Fahrer geschrieben hat. Sein Sohn hat 2002 Selbstmord begangen. Das hat seinen Lebensabend verdüstert, aber er hat nicht aufgehört zu schreiben. Die Resignation, die viele Jüngere aus der Generation befallen zu haben scheint, teilt er nicht. Poesie ist Spiel, sagt Hartung. Das Spiel gibt uns die Freiheit aufzuhören, ohne uns zu verlieren. Der Spielende fragt niemals: "Für wen eigentlich?"
Spüren daß man weniger wird
Nicht zugeben daß man weniger wird
Sich dagegen auflehnen daß man weniger wird
Weniger werden
Aber nicht weniger sein
Schreiben als Lebensverlängerung. Je weniger du notierst, umso schneller stürzt die Zeit. Also weiter. Warum weiter?
Es fällt mir nicht schwer, hier aufzuhören.
Aufhören ist offenbar schwerer als anfangen.
Nicht zugeben daß man weniger wird
Sich dagegen auflehnen daß man weniger wird
Weniger werden
Aber nicht weniger sein
Schreiben als Lebensverlängerung. Je weniger du notierst, umso schneller stürzt die Zeit. Also weiter. Warum weiter?
Es fällt mir nicht schwer, hier aufzuhören.
Aufhören ist offenbar schwerer als anfangen.
Der Tag vor dem Abend: Aufzeichnungen ist ein manchmal ein Tagebuch, manchmal eine Rückerinnerung an Kriegs- und Vorkriegszeit. Voller Aphorismen. Obgleich der Autor da skeptisch ist: Wo die Aphorismen sich häufen, sinkt die Kraft der Beobachtung. Es ist nicht zu lang geworden: Ein Buch mit Aufzeichnungen darf nicht zu dünn sein, sagt der Freund. Ich weiß, antworte ich, ich weiß, und füge schnell diese Notiz hinzu. Und es enthält auch eine auf das Jahr 2008 datierte Absage an die Welt der Automobile: Wir sagen die Probefahrt ab, wir kaufen uns kein Auto. Einige Erheiterung und Erleichterung. In den Papierkorb mit den schönen Glanzpapier-Prospekten. Dabei hatten wir uns schon für Silbermetallic entschieden. Auch weil es praktischer ist.
Wenn Sie Harald Hartung kennenlernen wollen, dann sollten Sie die Gedichte in Aktennotiz meines Engels lesen. Und Der Tag vor dem Abend: Aufzeichnungen lesen. Wenn Sie den Dichter in bewegten Bildern sehen wollen, dann können Sie hier ein Video von ➱2010 und eins von ✺2012 anschauen. Und vielleicht schreibe ich irgendwann einmal die Geschichte auf, wie mir der dänische König seinen neuen Jaguar Mark IX gezeigt hat. Falls Sie jetzt skeptisch gucken, die Geschichte ist wahr.
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