Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so ein Häppchen aus meinen vorläufig beiseite gelegten Jugenderinnerungen mit dem Titel Bremensien hier publiziert habe. Jetzt, wo ich Blogger bin, ruhen die erst einmal, auf einem Stick und einer externen Festplatte zusätzlich gesichert. Aber als ich las, dass Gustave Eiffel heute vor 180 Jahren geboren wurde, dachte ich mir, dass ich einen Teil meines Paris Kapitels (das erste Mal auf dem Eiffelturm!) hierher stellen könnte. Wir waren 1959 mit der Evangelischen Jugend Bremen-Vegesack unter der Leitung des Diakons Klaus Nebelung einige Wochen in einem kleinen Kaff nördlich von Amiens gewesen, hatten den verfallenen deutschen Soldatenfriedhof von Ailly-sur-Somme und viele Einzelgräber in der Umgebung wieder hübsch aufgerüscht. In den Jahren danach war die Gruppe noch mehrfach in Frankreich (einen Sommer waren wir in Jütland, aber da gab es nicht so viel zu tun. Die Dänen hatten die Gräber der Toten der Skagerakschlacht ordentlich gepflegt). Versöhnung über Gräbern hieß das Programm des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge; wir waren Teil eines historischen Prozesses, den Adenauer und De Gaulle drei Jahre später in Reims mit einer Versöhnungsmesse zelebrierten. Adenauer, der unserer Gruppe zufällig in Reims begegnete, hat damals der Ehefrau von Klaus Nebelung einen Hundertmarkschein in die Hand gedrückt, als er hörte, was wir hier in Frankreich machten. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass sein Außenminister von Brentano nur ein Fünfmarkstück locker machen wollte. Ich habe über den Friedhof von Ailly-sur-Somme vor zwei Jahren ➱hier einige Zeilen geschrieben, und habe zu meiner Überraschung festgestellt, dass der Post am Volkstrauertag einige hundert Mal gelesen wurde.
Als Belohnung für die wochenlange Arbeit in dem glühend heißen Sommer - wo es so heiß war, dass man die Stahlhelme auf den Gräbern besser nicht anfasste - gab es damals zum Schluss eine knappe Woche Paris.
Mein Paris im Juli 1959 war nicht das genormte Touristen-Paris. Gut, wir waren natürlich auf dem Montmartre. Wo ich zu meiner Überraschung meinen Klassenkameraden ➱Wuddel Wurthmann traf. Ich habe ihn aber nicht gefragt, wie er nach Paris gekommen war. Wir haben uns nur kurz begrüßt - so in der Art wie Stanley den Dr Livingstone begrüßt hat - weil wir damals unheimlich cool waren. Ich stand natürlich auch vor dem Moulin Rouge, das ich aber nicht photographiert habe. Ich knipste die Kneipen daneben: das Restaurant de la Bohème und das Restaurant de Moulin Joyeux mit der billig davor geklebten Mühle. Der Louvre musste für mich noch ein paar Jahre warten. Hätte zeitlich auch nur für den Louvre auf Rollschuhen gereicht.
Der Eiffelturm, ja, der musste sein. Um Geld zu sparen, nahmen wir die Treppe. Die brachte einen zwar nur bis zur zweiten Plattform, aber die hundert Meter Höhe über Paris reichten auch aus. Der Wärter an der Kasse, der merkte, dass wir Deutsche waren, erzählte uns, dass die Résistance im Zweiten Weltkrieg die Aufzüge unbrauchbar gemacht hätte. Damit Hitler, wenn er auf den Eiffelturm wollte, die Treppen nehmen musste. Man merkte ihm an, dass er diese Geschichte deutschen Touristen gerne erzählte. Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist, aber si non vero e bel trovato.
Hitler ist nie auf dem Eiffelturm gewesen, auf einem Photo posiert er in gehöriger Entfernung von dem Turm mit Speer und Arno Breker. Er hat sowieso nicht viel von Paris gesehen, sein Besuch fand in einem menschenleeren Paris in den frühen Stunden eines Sonntags statt. Paris hat ihm nicht gefallen. Ist der Hauptmann Ernst Jünger je oben gewesen? Oder hat es ihm gereicht, bei einem Angriff auf Paris vom Dach des Majestic den roten Himmel gespiegelt in seinem Champagnerglas zu betrachten? Ich hatte die Erstausgabe von Jüngers Auf den Marmorklippen damals noch nicht in unserem Bücherschrank entdeckt, in der auch ein heimlich abgetipptes Manuskript von Der Friede lag. Es war damals sehr gefährlich, das zu besitzen, hat mir meine Mutter gesagt. Wenige Jahre später, als ich eine kurze Ernst Jünger Phase habe, werden seine Pariser Tagebücher mich beschäftigen, aber Jünger und ich sind in einem anderen Paris gewesen. Als Ernst Jünger Paris verlässt, notiert er am 8. August 1944 in seinem Tagebuch: Noch einmal auf der Plattform von Sacré-Cœur, um einen Abschiedsblick auf die große Stadt zu tun. Ich sah die Steine in der heißen Sonne zittern wie in der Erwartung neuer historischer Umarmungen. Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold. Wir sehen damals auch die Steine in der heißen Sonne zittern, haben dabei aber keine weltgeschichtlich amourösen Gedanken, wir sind einfach nur fasziniert, weil wir noch nie eine so große Stadt von oben gesehen haben.
Wir waren in der Jugendherberge in Billancourt untergebracht, damals kein fashionabler Stadtteil (auch kein Stadtteil, in den sich der Dandy und Flaneur mit dem Pour le Mérite verirrt hätte). Streng genommen ist Boulogne-Billancourt gar kein Stadtteil von Paris, aber man nennt es ironisch das 21. Arrondissement, und die Bebauung geht übergangslos in Paris über. Die Métroverbindung über die Linie 9 war exzellent. Die Renaultwerke waren dort und auch die etwas heruntergekommenen Studios des französischen Films der dreißiger Jahre. Wenn wir auf der Seinebrücke Pont Renault standen, konnten wir tote Hunde in der Seine schwimmen sehen. Das schien eine nationale Eigenheit zu sein, tote Hunde in die Flüsse zu werfen. In Ailly-sur-Somme war ich beim Schwimmen in der Somme mal gegen einen gestoßen, war ein ekliges Gefühl.
Wir durften uns in kleinen Gruppen ohne Aufsicht Paris erobern - heute undenkbar, dass man Sechzehnjährige durch Paris streifen lassen würde. Aber unser Diakon Klaus Nebelung hatte Vertrauen in uns, und damals waren Sechzehnjährige auch schon erwachsener als heute. Das sagt jede Generation über eine jüngere immer wieder. Unsere Fixpunkte waren die Auberge Internationale des Jeunes in Billancourt, die Linie 9 der Métro und die Mensa der Sorbonne, für die hatten wir für die nächsten Tage Essensmarken. Das allein war natürlich schon ein Erlebnis, von dem ich ein wunderbares Detail nie vergessen werde: ein langer, eleganter schwarzer Student, der seinen gelben Döschewo vor der Mensa parkt, einen Schraubenzieher aus der Hosentasche zieht und den Türgriff abschraubt. Eine Diebstahlsicherung à la française.
Ich habe noch nicht die Attitüde des Flaneurs von Walter Benjamin und Franz Hessel. Paris hat damals in vielen Gegenden auch noch nichts ➱Großstädtisches, ist eher petit bourgeois, ländlich. Man kann noch Pferdewagen sehen. Ich treibe durch die Straßen, betrachte das quirlige Leben durch den Leuchtrahmensucher meiner Kamera (natürlich die neue ➱Werra I). Für Paris habe ich mir zu Hause extra einen Farbfilm gekauft.
Wenn ich heute die Photos betrachte, dann muss ich sagen, dass das mit dem Farbfilm doch keine so gute Idee war. Die Schwarzweißphotos, die ich in Paris gemacht habe, sind einfach besser, stimmiger. Diese ganze Epoche ist, photographisch gesehen, schwarz und weiß. Ich weiß nicht, ob Henri Cartier-Bresson (unser aller Vorbild in diesen Tagen) jemals einen Farbfilm verknipst hat. Die Photobände über Paris aus den 50er Jahren, die heute in meinem Bücherregal stehen, zeigen alle Schwarzweißphotos. Und ein Paris, das meinen Photos sehr ähnlich ist, nicht dass ich mich mit Robert Doisneau auf eine Stufe stellen oder eine direkte Linie von Eugène Atget zu mir ziehen wollte. Aber vom Photographieren versteht man in den fünfziger Jahren etwas, wenn man fünfzehn oder sechzehn ist. Unser Gemeindehaus beherbergt nicht nur die Evangelische Jugend, sondern auch ein Photolabor im Keller. Alles, was an Photoapparaten in den Schaufenstern der Drogerien Tüscher oder Seemann, bei Photo Hallfeldt oder Erich Maack in meinem Heimatort steht, kennen wir natürlich. Wir können auch die technischen Daten all dieser Kameras hersagen. Ich glaube, jeder von uns kleinen Cartier-Bressons kennt damals den Photo Porst Katalog auswendig. Die 50. Auflage von 1956 habe ich immer noch.
Ich wage mich, zum Ärger eines Flics, in die Mitte einer verkehrsreichen Straße, um den Verkehr zu photographieren. Veranstalte waghalsige Klettereien, um eine neue Perspektive für das Reiterstandbild des Marschalls Joffre mit dem Eiffelturm im Hintergrund zu finden.
Das hier habe ich mir aus dem Internet geklaut, aber ungefähr so sieht mein Photo auch aus. Ich photographiere junge Leute mit ihrem Kronenbourg in einer bar américain. Photographiere den Gardesoldaten, der mir auf seinem Weg zur Parade des 14. Juli eine halbe Stunde lang, stocksteif und unbeweglich, den Helm mit Rosshaarschweif auf den Knien, in der Métro gegenübersitzt, wage ich nicht zu photographieren. Das wäre ein tolles Photo gewesen, auch in Farbe. Aber das Licht hätte nicht ausgereicht, wie mir ein verstohlener Blick auf meinen Ikophot Belichtungsmesser verrät. Meine Kamera bleibt auch in ihrer Ledertasche, als ich durch Zufall auf eine menschenleere Avenue gerate, keine der Prachtstraßen des ➱Barons Haussmann. Keine Menschen. Stille, nur die Hitze der Mittagsstunde. Am Ende der Straße Sandsäcke, darauf Maschinengewehre. Ich bin in ein Algerierviertel geraten. Wieder einmal wird einem vor Augen geführt, dass der Krieg nie aufhört. Über diesen Krieg redet hier niemand, erst recht am Nationalfeiertag nicht. Und über den letzten in Indochina, der erst wenige Jahre her ist, auch nicht. Wie habe ich damals an unserem kleinen Radio um die heldenhafte Krankenschwester gebangt, deren Namen niemand richtig aussprechen konnte (Geneviève de Galard Terraube), die nur der Engel von Jängjängfu hieß. Frankreichs kriegerische Vergangenheit ist in jedem Arrondissement gegenwärtig. Kriegerdenkmale gibt es überall in Paris, die Métrostationen haben Namen von Schlachtfeldern: Austerlitz, Wagram, Iéna, Trocadero, Place d’Italie, Crimée, Sébastopol, Pyramides, Stalingrad.
La Madeleine heißt das Losungswort für den letzten Tag in Paris, dort soll am Nachmittag die Abfahrt zurück nach Bremen sein. Alle finden sich rechtzeitig ein, bis auf einen. Dieter B. fehlt. Der Busfahrer der Bremer Firma Elbracht wird langsam wütend, zumal er ständig von Flics ermahnt wird, dass er nicht den ganzen Tag mit seinem Bus vor der Madeleine stehen bleiben kann. Gemeindehelfer Schark folgt einem Flic zur nächsten Gendarmerie. Im Zweiten Weltkrieg war er als Feldwebel hier, er kann gut Französisch. Er kann auch gut mit Leuten, auch mit Pariser Flics. Wir organisieren unsere eigene Suchaktion. Ich habe die glänzende Idee, mich zusammen mit Ekke für Le Printemps zu entscheiden. Wenn man da vor dem Eingang steht, sieht man in einer Stunde tout le Paris. Leute zu beobachten, ist immer interessant, aber in Paris natürlich viel interessanter als in Bremen. Ob Dieter einem Werber der Fremdenlegion in die Hände gefallen ist?
Nach anderthalb Stunden hält plötzlich mit kreischenden Bremsen ein Polizeiauto neben uns, ein offener Jeep, keiner dieser großen schwarzen Citroens, die wir Gangsterautos nennen werden, wenn wir sie in den Filmen der Nouvelle Vague sehen. Die Polizisten versuchen, den zappelnden Ekke in das Auto zu zerren. Es gelingt ihm, mit Händen und Füßen den Polizisten zu erklären, dass der verloren gegangene Deutsche zwar auch blond ist, auch eine Lederhose trägt, aber zwanzig Zentimeter kleiner ist als er. Ekke ist einsachtzig. Unsere Französischkenntnisse sind marginal, da die meisten von uns in der Lateinklasse sind, wir picken aber in Ailly schnell eine Menge Alltagsfranzösisch auf. Aber als mir meine Freundin Renate in einem Brief schreibt Je t'aime beaucoup, muss ich erst Jochen Schlüter, der in der Französischklasse des Gymnasiums ist, fragen, was das heißt.
Am Abend sind wir wieder an der Madeleine, unser Bus hat mit Hilfe der Pariser Polizei einen neuen Parkplatz einige Straßen weiter gefunden. Klaus Nebelung organisiert Getränke in einem neonbeleuchteten Schnellimbiss; unsere Lunchpakete haben wir noch, wir werden im Bus schlafen. Das ist unbequem, niemand kann wirklich schlafen. Ich wandere um Mitternacht die Rue de la Paix entlang zum Place Vendôme. Es ist immer noch warm. Der Platz ist menschenleer. Er gehört jetzt ganz mir. Ich bewundere die zurückhaltende Leuchtreklame mit den Namen der Juweliere: Boucheron, Cartier, Van Cleef & Arpels, Chaumet. Chopin, der hier gestorben ist, hat an Haus No. 12 eine kleine Tafel, keine Leuchtreklame. Ein dunkelblauer Himmel mit weißen Wolkenschleiern über der Stadt, der leere Platz, die seltsame Siegessäule, geparkte dunkle Autos, die Laternen, die beleuchteten Schaufenster. Ich bin übermüdet, aber gleichzeitig hellwach. Ich kann mich nicht satt sehen.
So sehr ich mich über Dieter B. ärgere, ich verdanke ihm diesen Moment, den ich niemals vergessen werde. Das Bild bleibt im Kopf. Es gibt keine Musik dazu, aber Nuits d’été von Hildegard Behrens gesungen, wäre schon gut. Jahre später werde ich in Le cercle rouge von Jean-Pierre Melville dieses gleiche Bild vom leeren Platz wieder sehen, und plötzlich bin ich wieder in Paris. Am frühen Morgen kann ich die Stadtreinigung dabei beobachten, wie sie oben auf der abschüssigen Strasse den Hydranten aufdreht, aller Dreck im Rinnstein (jetzt erkenne ich, warum der so heißt) wird nach unten gespült. Dann wird oben eine Art überdimensionierter Feudel ausgelegt: das Wasser reinigt auch die andere Straßenseite. Genial. Es wird langsam hell, auf den Straßen regt sich erstes Leben. Hat Hitlers Paris 1940 so leer ausgesehen, als er mit seinem Mercedes hier durchrauschte? Jahrzehnte später wird ein junger französischer Regisseur namens Claude Lelouch morgens um halb sechs hier auch mit einem Mercedes durch Paris fahren. Mit einer Kamera am Wagen, keine rote Ampel beachtend. Cinéma vérité, kaum zehn Minuten lang. Der Film darf im Kino nicht gezeigt werden (irrlichtert jetzt aber überall durchs ➱Internet), seinen Führerschein ist Lelouch auch los. Aber was für ein Morgen in Paris!
Dieter B. wird uns am Vormittag, wenn wir unterwegs nach Deutschland sind, von einem Polizeiauto nachgebracht werden. Er hatte den Abfahrtsort vergessen, war zurück in die Jugendherberge und hatte sich schlafen gelegt. Er ist sein ganzes Leben lang ein Chaot gewesen. Jemand hat mir erzählt, dass man ihn zuletzt irgendwo am Amazonas gesehen hat, seitdem ist er verschollen.
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