Jean Renoir hatte dem filmverrückten jungen italienischen Adligen Conte Don Luchino Visconti di Modrone den Roman The Postman Always Rings Twice geschenkt. Und der hatte, kaum war er von einer Amerikareise (mit einer Stippvisite in Hollywood) zurückgekehrt, sofort mit der Verfilmung begonnen. Um das Copyright hat er sich nicht gekümmert. Wie sollte er auch, Italien unterhielt keinerlei Beziehungen zu den USA. Eine amerikanische Verfilmung gab es noch nicht. MGM hatte die Rechte noch nicht gekauft, Tay Garnetts The Postman Always Rings Twice war noch nicht gedreht.
So oder so ähnlich steht es in jedem Filmlexikon, und dabei wird immer etwas unterschlagen. Es ist nicht der Originaltext von James Mallahan Cain, den Visconti von Renoir erhält. Jean Renoir, bei dem er als Assistent arbeitet (das hatte ihm Coco Chanel vermittelt) und dessen Kino er verehrt, überlässt ihm die maschinengeschriebene Fassung einer französischen Übersetzung, die er selbst von Julien Duvivier (der Mann, der Pépe le Moko gedreht hatte) erhielt. Und auf dieser Basis entstand in Frankreich der Film Le dernier tournant von Pierre Chenal. Visconti hat den Film 1939 gesehen, er hat ihn nicht unbeeinflusst gelassen, das wird aber von der Filmkritik immer ein klein wenig unterschlagen.
Heute vor siebzig Jahren wurde sein Film Ossessione zum ersten Mal aufgeführt. Und verschwand sofort wieder aus den Kinos. Der Film wurde dann in einer gekürzten und zensierten Fassung gezeigt, wahrscheinlich ist es diese Version gewesen, die 1959 in Deutschland gezeigt wurde. Sie war vierzig Minuten kürzer als das Original. Es waren nicht die Anwälte von James Mallahan Cain, die das bewirkten, nein, es war die italienische Zensur. Da konnte ihm auch der Sohn Mussolinis Vittorio nicht helfen, mit dem (und mit Federico Fellini und Roberto Rossellini) Visconti den salotto, eine Art Salon der Filmemacher gegründet hatte. Hätte er seinen Film gleich mit dem leidenschaftlichen Titel Ossessione bei der Direzione Generale per la Cinematografia des Kultusministeriums eingereicht, hätte er vielleicht gar nicht erst die Drehgenehmigung bekommen. Aber bei der Erteilung der Genehmigung am 26. Januar 1942 hieß der Film noch Palude, das Moor ist ja ideologisch unverdächtig.
Das mit dem Moor ist aber schon ein Hinweis auf die Bedeutung der Landschaft im Film. Michelangelo Antonioni hatte 1939 in einem Artikel Per un film sul fiume Po erklärt I need only say that I would like a film with the Po as the central character, in which the spirit of the river would provide the interest of the film. Er hat diesen Film (Menschen am Po / Gente del Po) 1943 gedreht, der Film kam aber erst nach dem Krieg in die Kinos. Die Po Ebene ist ja immer wieder Schauplatz für italienische Filme gewesen, von Ossessione, Gente del Po und Bitterer Reis über Antonionis Meisterwerk Il Grido bis zu seinem späten Film Die rote Wüste. Die Personen in Ossessione sind Gefangene der Landschaft, ähnlich wie die Romanhelden von Thomas Hardy. Hippolyte Taines Formel race, milieu, moment gilt auch für den italienischen Neorealismus.
Zum Film brachte mich vor allem der Drang, Geschichten von lebendigen Menschen zu erzählen, von lebendigen Menschen, die inmitten der Dinge lebendig sind, nicht von den Dingen an sich. Das Kino, das mich interessiert, ist ein anthropomorphes Kino.Das schreibt Visconti in seinem manifestartigen Artikel Das anthropomorphe Kino wenige Monate nach der Erstaufführung von Ossessione in der Filmzeitschrift Cinema. Die Zeitschrift Cinema war 1936 gegründet worden, die Filmzeitschrift Bianco et Nero 1937, hier wird jetzt das neue italienische Kino theoretisch fundiert, die Periodika sind, wenn man so will, Zeitschriften des Widerstands. Allerdings muss man auch sehen, dass Visconti mit seinem Manifest des neuen Films vorsichtshalber abgewartet hat, bis Mussolini abgesetzt war und die Italiener mit den Amerikanern einen Waffenstillstand vereinbart hatten.
Die lebendigen Menschen, von denen Visconti spricht, sind noch nicht die Menschen von Il Gattopardo. Graf Visconti, Sohn eines Herzogs, interessiert sich jetzt in seinem Drama von Landschaft, Liebe und Leidenschaft für den einfachen Menschen. Bevor er Renoirs Regieassistent wurde und in Paris mit dem Marxismus in Berührung kam, hatte er Rennpferde gezüchtet. An die große Welt des Adels als Gegenstand des Films, an Filme wie Il Gattopardo oder die Verfilmung von Proust, denkt Visconti noch nicht, ein gewisser Populismus zeichnet den neorealistischen Film aus. Es ist allerdings ein anderer Populismus als das von Frank Capra (einem gebürtigen Italiener) in Hollywood zelebrierte ➱Cinema of Populism.
Mich interessieren allein Extremsituationen und die Augenblicke, in denen eine außerordentliche Spannung die Wahrheit aus den Menschen hervorlockt. Ich liebe es, die Figuren einer Geschichte sowie ihren Inhalt hart und aggressiv anzugehen. Es ist ein Realismus, der das Publikum schockiert: Viele der in Pelze gekleideten Frauen zitterten vor Schrecken und Entsetzen, sagt Visconti nach der einer Vorführung für ein ausgewähltes Publikum. Dieser Blick in das wahre Italien und den Abgrund menschlicher Leidenschaften ist nichts für die Schickeria des italienischen Faschismus. Man will Unterhaltung und ein Happy Ending, das ist man von der faschistischen Unterhaltungsmaschine gewöhnt (in Deutschland ist das nicht anders), man will nicht den Tod am Ende des Films.
Vor dem Neorealismus hatte allein der französische Film, man denke an die Filme von Marcel Carné (photographiert von Eugen Schüfftan) mit Jean Jean Gabin einen Realismus im Film zustande gebracht, wenn es auch ein réalisme poétique (machnmal auch merveilleux social genannt). Aber das poetische Element fehlt bei Visconti, obgleich Aldo Tontis Kameraarbeit sicherlich exzellent ist. Visconti hat den Film selbst finanziert, hat das Drehbuch zusammen mit Giuseppe De Santis (der später Bitterer Reis drehte) und drei anderen geschrieben. Sein Realismus ist eher der Realismus von Jean Renoirs Film Toni, obgleich Renoir selbst bezweifelte, dass sein Einfluss auf den italienischen Neorealismus wirklich so groß gewesen sei. Das Szenenphoto oben ist aus Renoirs Toni, es könnte genau so aus Viscontis Ossessione sein.
Visconti hat für Renoirs Film Une partie de campagne die Kostüme entworfen. Damit kannte er sich aus, er hatte einen Sinn für schöne Kleidung und war sicherlich sein Leben lang einer der elegantesten Männer Italiens. Wenn er jetzt auch mit dem Marxismus flirtet, wird er seinen aristokratischen Lebensstil niemals aufgeben. Jean Renoir hat bei den Dreharbeiten zu Une partie de campagne nicht nur den Regieassistenten Luchino Visconti. Andere neben ihm werden ebenso berühmt werden: Jacques Becker, Henri Cartier-Bresson und Yves Allégret. 1940 arbeitet Visconti noch einmal mit Renoir zusammen, bei einem Film der La Tosca heißt. Das lasse ich jetzt mal weg, will aber nicht vergessen zu erwähnen, dass Ferrucio Tagliavini darin singt.
Tay Garnett hat Viscontis Film nicht gekannt, als er The Postman Always Rings Twice drehte. Er war seit 1928 Regisseur, er machte das, was das Studio von ihm wollte. Vincent Canby hat in der New York Times gesagt: Comparing the Visconti 'Ossessione' with the Garnett 'Postman' is to stand a production of 'Traviata' next to a McDonald's television commercial, which is not meant to underrate the American film, which is as effectively steamy, tough and terse.
Und wenn wir das Bild von Lana Turner und John Garfield (oben) im Vergleich zu den anderen Paaren auf dieser Seite (links ein Bild aus Le dernier tournant) betrachten, können wir natürlich sehen, dass der Hollywood touch dem working class Ambiente des Romans nicht so recht steht. Als ich den kurzen Roman von James Mallahan Cain zum ersten Mal las, hatte ich bei der hellcat Cora niemals Lana Turner vor meinem geistigen Auge. Man denkt ja beim Lesen häufig schon in filmischen Kategorien und besetzt die Romanfiguren mit lebenden oder toten Filmschauspielern. Auch als ich den Roman zum zweiten und dritten Mal las, kam mir Lana Turner nie in den Sinn. Aber es ist wie es ist, in Tay Garnetts Version von The Postman Always Rings Twice hat sie nun mal die Hauptrolle. Das mit dem McDonald's television commercial gefällt mir natürlich, aber ganz so schlecht ist der Film auch nicht. Mehr über James Mallahan Cain und The Postman Always Rings Twice gibt es hier im Blog.
Es gab am 17. Mai 1943 noch andere Ereignisse als die Uraufführung von Ossessione. Eins stand schon vor zwei Jahren in diesem Blog, lesen Sie doch einmal ➱Talsperren.
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