Mittwoch, 30. April 2014

Des Königs Jaguar

Die königliche Yacht Dannebrog liegt im Limfjord, im Hafen von Nyköbing. Sie könnte einen neuen Anstrich vertragen, man sieht es ihr an (wenn man auf einem kleinen Unterweserkaff kommt, das nur aus Werften besteht und wenn man bei einem Schiff als erstes auf die Nietenköpfe guckt), dass sie ein Vierteljahrhundert alt ist. Aber nichts ist hier in Dänemark wirklich neu, außer den Exponaten in Den Permanente in Kopenhagen. Im Zweiten Weltkrieg ist die Yacht ein Lazarettschiff gewesen. Die Verwundeten wurden nicht im Vorderteil des Schiffes untergebracht, wo die Mannschaftsquartiere sind, sondern in dem Teil des Schiffes, der für das Königshaus reserviert ist. Das ist Dänemark.

Es ist ein wunderbarer Juliabend. Die Wachen an Bord pfeifen Seite, es wird salutiert. Der König geht von Bord. Er ist schlecht gelaunt und flucht leise vor sich hin, das kann man auch verstehen, wenn man kein Dänisch versteht. Er ist beim Direktor der Austernfischerei zum Abendessen eingeladen und er will pünktlich sein. Punktlighet är kungars artighet, unter diesem Slogan hatte die Schweizer Uhrenfirma Omega vor wenigen Jahren mit einem Bild seines schwedischen Königskollegen geworben, der gerade auf seine Omega schaut. Das Königshaus hatte die leichte Impertinenz der Anzeige durchgehen lassen, um zu zeigen, wie volkstümlich man ist. So was hat Frederik nicht nötig. Er ist volkstümlich. Er ist während der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg als Zeichen des Widerstands jeden Abend in Marineuniform durch Kopenhagen geritten, im Winter mit Zeitungspapier unter der Uniform, er hat sich den Judenstern an die Uniform gesteckt, glaubt jeder Däne. Allerdings sind diese Geschichten ein bisschen apokryph und außerdem verwechseln sie ihn inzwischen mit seinem Vater. 

Er ist aber ein vorzüglicher Pianist und hat das Orchester des königlichen Theaters oft dirigiert (heute habe ich sogar CDs von ihm). Niemand im Königreich ist so populär wie der König, vielleicht mit der Ausnahme von Niels Bohr. Nobelpreisträger, Mitglied des Widerstands. Der rothaarige Organist Ebbe A. aus Odense (der im Urlaub immer die Romanen mit die Mörders liest) hat mir erzählt, wie sein alter grüner Saab einmal in Kopenhagen von einem amerikanischen Straßenkreuzer angefahren wurde, der eine Einbahnstraße in falscher Richtung befuhr. Als er wutentbrannt auf den Fahrer zustürzte, sah er, dass er Niels Bohr vor sich hatte, dem das schrecklich peinlich war. Aber Herr Bohr, das macht doch gar nichts, es ist doch gar nichts passiert. Er hat die Beule im Kotflügel nie reparieren lassen, als Erinnerung an diesen Augenblick. 

Frederik lässt am Fuße der Gangway mit lauter Stimme zum Schiff gewandt jeden wissen, was er von unpünktlichen Prinzessinnen hält, die nicht rechtzeitig in ihre Abendkleider kommen. Der König trägt seine Admiralsuniform, mit weißen Handschuhen. Er geht zu seinem Auto, er braucht keinen Chauffeur. Um den riesigen Jaguar Mark VII herum (dass dies ein Jaguar ist, erkenne ich sofort: Jugendliche in dieser Zeit kennen nicht nur alle Photoapparate, sondern auch alle Automarken) steht eine kleine Gruppe von Dänen. Und ich. Es gibt kein Sicherheitspersonal. Man munkelt, dass der König sich einen Rolls-Royce bestellt hat. Was für große Erleichterung unter dänischen Millionären sorgen wird. Denn solange der König keinen Rolls-Royce fährt, gehört es sich in Dänemark nicht, solch ein Auto zu besitzen. 

Aber diesen Wagen liebt der König. Der Jaguar, der aussieht wie ein Rolls, ist dunkelblau, hat auf dem Nummernschild eine kleine Krone und die Nummer 1. Jemand fragt den König nach den PS-Zahlen. Frederik lebt auf, zieht seine weißen Handschuhe aus und öffnet persönlich die Motorhaube, damit alle den Motor sehen können. Dann schüttelt er allen die Hand, steigt in den Wagen und fährt los. Die Prinzessinnen werden wenig später in einen dunkelblauen Buick steigen. Ein richtiger König hat mir die Hand geschüttelt. In der Tiefgarage meines Herzens, wo die Autos stehen, von denen man träumt, wird immer ein dunkelblauer großer Jaguar Mark VII stehen.

Die dänische Krone hat dann als Staatskarosse einen Rolls Royce Silver Wraith (mit sieben Sitzen) angeschafft, und Frederik hat sich ein Bentley Cabrio gekauft. Da waren die dänischen Millionäre aber froh. Es war mir schon klar, dass die Erwähnung dieser Geschichte in dem Post Traumwagen bei einigen Lesern den Wunsch weckte, sie sofort hören zu wollen. Ich brauchte es nicht aufzuschreiben, es stand schon in meinen Bremensien. Es musste jetzt ein Gedicht dafür gefunden werden. Ich besitze leider nur ein Buch mit dänischen Gedichten. Und aus dem habe ich schon im April 2011 in dem Post Dänische Kunst das Gedicht von Klaus Rifbjerg zitiert. Und ich brauchte etwas, was mit Booten oder Yachten zu tun hat. Und einem maritimen Unglück. Ich habe da noch etwas Kurioses auf der Geschichte der Dannebrog zum Schluss. So nahm ich denn von Jens Peter Jacobsen das Gedicht Fahr hin, mein Boot aus der Sammlung Hervert Sperring:

Fahr hin, mein Boot

Fahr hin, mein Boot, fahr hin, mein Boot,
In unbekannte Weiten,
Der Leidenschaften Strom dich führt,
Laß steuerlos dich gleiten.

Fahr hin, mein Boot, fahr hin, mein Boot,
Längst sank der Hoffnung Fahne,
Du findest keinen Hafen mehr
Geöffnet solchem Kahne.

Fahr hin, mein Boot, fahr hin, mein Boot,
Dir leuchten keine Sterne,
Bald wirbelst du im Wasserfall,
Er braust schon in der Ferne.

Diese schlimmen kleinen Dinger auf dem Cartoon hier sind der Phantasie von Ronald Searle entsprungen. Wie kennen sie als die Schülerinnen von St Trinian's, deren Lebensinhalt Anarchie und Destruktion ist. Wenn Sie sich jetzt fragen, was die mit Frederik und der königlichen Yacht Dannebrog zu tun haben, habe ich natürlich darauf eine Antwort. Der Kapitän einer Fregatte der Royal Navy hatte einmal Ronald Searle gebeten, ihm eine St. Trinian's Charter zu zeichnen, in der die Fregatte verpflichtet wurde to uphold and carry to the four corners of the earth the true spirit and glorious tradition of St Trinian to which they have shown themselves true. Searle tat das auch und wurde zum Ehrenmitglied der Offiziersmesse ernannt. Die Fregatte war dem Geist von St. Trinian's treu. Sie rammte im Hafen von Kopenhagen 1956 die königliche Yacht Dannebrog und radierte ihr den Bugspriet weg. Ich nehme an, dass der König das mit Humor genommen hat.

Wenn die Engländer schon sein Schiff demolieren, dann kann der König auch schon mal einen englischen Bentley zerlegen. Das ist ihm 1970 in Kopenhagen gelungen, wie man dem Buch Kongelige køreglæde – med benzin og blåt blod i årerne von Martin Lund entnehmen kann. Kann ja passieren. Vielleicht hätte er doch der Marke Jaguar treu bleiben sollen wie seine Gattin Ingrid das tat.

Traumwagen


Kinder haben Sternchen gern – Sternchen ist das Kind vom Stern, hatte Henri Nannen dichten lassen. Das Sternchen war in den fünfziger Jahren die Kinderbeilage der Zeitschrift Stern. Da gab es auch Loriot mit Reinhold dem Nashorn. Natürlich gab es auch einen Sternchen Club mit Ausweis und Anstecknadel, unsere halbe Klasse war im Sternchenclub. Und dann gab es diese Späher Hefte, in die man eintragen konnte, wann man welche Autos auf der Straße gesehen hatte. Dies Mercedes Coupé war leicht zu finden, es stand bei uns in der Straße, ich ging jeden Morgen auf dem Weg zur Schule dran vorbei.

Manche sah man natürlich nie. Wie zum Beispiel das viertürige Cabriolet vom Mercedes 300 S. Eins habe ich mal gesehen, stand am Grenzkontrollpunkt Helmstedt. Es saß eine vierköpfige Familie drin, alle trugen Trenchcoats, Ledermützen und goggles. Cool. Als ich den cremebeigen 300er sah, war ich schon zu alt für den Sternchen Club, ich hätte ihn nicht mehr in das Späher Heft eintragen können. Hätte ich das kleine Büchlein mit den erspähten Autos heute noch, es wäre inzwischen wirklich etwas wert.

Wenn man 1960 schwerbepackt bei Gegenwind mit dem Fahrrad durch Dänemark radelt, dann wird man schon neidisch auf diesen jungen Mann, der da in einem offenen MG an einem vorbei rauscht. Vielleicht sogar neidisch auf den Typ mit der Vespa, der fünf Photoapparate umgehängt hatte. Und diese hübsche Blondine auf dem Rücksitz hatte, mit der er zum Strand abbog. Es ist mir erst Jahre später klar geworden, dass der Typ nur am späten Nachmittag zum Strand fuhr, um Photos für eins der dänischen Pornomagazine zu machen. Also diese Sache, die auch in Kressin stoppt den Nordexpress vorkommt, wenn der Zollfahnder mit Gitte einen derartigen Laden besucht (Sie können den Film in ganzer Länge sehen, wenn Sie den Titel anklicken). Der Bösewicht Ivan Desny fährt natürlich einen Rolls Royce). Dänemark war damals voll von hübschen Blondinen. Und dank der Bindung an die EFTA voll von englischen Autos. Man wusste beim Gucken gar nicht, wofür man sich entscheiden sollte, für Autos oder blonde piger.

Man träumt ja immer von Autos, die man nie bekommt. Wie dem weißen Facel Vega, der auf dem Osterdeich stand, wenn ich zum Weserstadion marschierte, um die Helden meiner Jugend zu sehen. Wenn der da stand, gewann Werder immer. Oder dieser Rolls Royce mit Pariser Nummernschild, der plötzlich in der Nacht um drei auf dem Forstweg an mir vorbeiglitt, als ich von Ako Amadis Abschiedsparty nach Hause marschierte. Er war so leise, dass man verstand, dass die Firma einmal Modelle auf die Namen Ghost oder Phantom taufte. Einen Rolls Royce gab es in fünfziger Jahren in Bremen nicht. Nur der Werftbesitzer Ernst Burmeester hatte einen dunklen Bentley, ein Rolls wäre ihm zu prollig gewesen. Aber dafür besaß er mit der Ashanti VI die größte deutsche Hochseeyacht.

Auf der Abiturfeier habe ich damals vollmundig verkündet Wenn ich dreißig bin, fahre ich einen Jaguar, British racing green mit roten Lesersitzen. Ich war schon ziemlich angeschickert. Glücklicherweise war der Klaus, mit dem ich gewettet hatte, noch betrunkener als ich. So hat er den Kasten Sekt bis heute nicht eingefordert.

Natürlich hatte ich mit dreißig keinen Jaguar, da war ich gerade von meinem NSU Prinz auf einen weißen Peugeot umgestiegen. Immerhin waren die Instrumente von Jager LeCoultre. Heute fahre ich den dritten Golf, ich bin von diesen Autoträumen geheilt. Mein Bruder offensichtlich nicht. Nachdem er eine schlimme Phase mit englischen Sportwagen hatte (lesen Sie doch hier einmal alles über seinen TVR), schien auch er vernünftig geworden zu sein. Aber dann schickte er mir letztens eine Mail, in der nur Morgan LeMans 62 stand. Ich frage erstmal lieber nicht nach.

Peter Ustinov, der sicherlich ein klein wenig autoverrückt war (lesen Sie hier mehr dazu), hat einmal (ich glaube, das ist auf der CD Vorurteile) erläutert, warum er keinen Rolls Royce habe: er würde dann den ganzen Tag nur hinter den Fenstervorhängen lauern und Wache halten, dass auch ja niemand seinen Rolls berührt. Er hat seine automobile Karriere (car-riere) mit einem Fiat Topolino begonnen, danach hatte er ein Lancia Aprilia Eagle Cabriolet. Kaufte sich dann einen Jowett Jupiter, es geht mit den Autos immer weiter nach oben. Wir verdanken Sir Peter auch den wunderbaren Satz: One drives, of course, an Alfa Romeo. One is driven in a Rolls-Royce, but one only gives a Delage to one's favorite mistress. Das hier ist ein Delage D8-120 aus dem Jahre 1937. Welche Frau hat solch ein Auto verdient?

Später erwarb Ustinov den Hispano Suiza aus dem Jahre 1934 (hier im Bild). Der ihm prompt in London gestohlen wurde. Ustinov beauftragte eine Detektei, die den Wagen schließlich in Frankreich fand. Aber er hat ihn nach zehnjährigem Gerichtsstreit (It was a nightmare and a farce) nicht zurückbekommen: The judge told my lawyer that he felt deep compassion for Ustinov, for the injustice he had received because the law was correctly interpreted. He was careful not to put that in writing, of course. But the outcome was predictable. Napoleon rewrote French law to justify his own thefts, and the French don't like anyone other than Frenchmen owning the best car they ever made. Der einzige Hispano Suiza, in dem ich gefahren bin, hieß HS 30 und war ein Schützenpanzer. Ich glaube, das zählt jetzt nicht.

Wenn ich in einem Luxuswagen sitzen will, dann frage ich meinen Freund Keith, ob ich mal in einem seiner Autos sitzen darf. Der Keith (hier in einem Capalbio Maremma Jackett, das inzwischen wie seine Oldtimer schon Sammlerwert hat) besitzt sie alle: Ferrari, Jaguar E Type, Daimler Double Six, Rolls Royce, Bentley undsoweiter. Und einen Morgan, der mal Brigitte Bardot gehört hat. Nur einen englischen Bristol, den hat er noch nicht. Auch wenn ich kein Autoverrückter bin, gucke ich den Traumwagen immer noch hinterher. Wobei diese Wagen eigentlich immer Wagen sind, die alle keinen Abgastest des TÜV bestehen würden weil sie aus dem goldenen Zeitalter des Automobildesigns stammen. Heute sehen die ja beinahe alle gleich aus, sind eher Albtraumwagen als Traumwagen.

Ich habe heute natürlich ein Gedicht, das mit Autos zu tun hat. Es stammt von Harald Hartung, dessen Gedichtband Das gewöhnliche Licht aus dem Jahre 1976 mir letztens im Antiquariat in die Hände fiel. Die Witwe des im November verstorbenen Kieler Hans-Jürgen Heise hatte offensichtlich eine Vielzahl von Rezensionsexemplaren und Geschenken von Gedichtbänden ins Antiquariat getragen, die ich natürlich sofort kaufte. Und dadurch einige Dichter kennenlernte, die ich bisher nicht kannte.

Von Harald Hartung kannte ich nur seine Aufsätze zur Literatur (er schreibt sehr gut über Literatur) und den schönen Band Luftfracht, der in der Anderen Bibliothek erschienen war und eine Fortschreibung von Enzensbergers museum der modernen poesie war. Hat mir Volker damals geschenkt, ich weiß gar nicht, womit ich das verdient hatte. Aber nun hatte ich Das gewöhnliche Licht in den Hand. Und nicht nur das, es lagen Briefe und Ausschnitte von Rezensionen aus dem Jahre 1976 in dem Buch. Nachdem ich den Rest des Tages Das gewöhnliche Licht gelesen hatte, war ich am nächsten Tag wieder bei Eschenburg und kaufte alles von Harald Hartung. Es wäre ja nun verlockend, aus den Briefen und Briefentwürfen, die in den Gedichtbänden lagen, etwas zu zitieren. Aber ich käme dabei wie ein Voyeur vor, das geht nicht. Doch diese (leider nicht zitierfähige) Innenansicht aus dem Gespräch zweier Dichter ist natürlich faszinierend. Was schreiben sie sich? Wie gehen sie miteinander um?

Das erste Gedicht, das mich in dem Band Das gewöhnliche Licht faszinierte, hieß Schmalfilm. Das stelle ich mal eben hier hin, da ich Leute kenne, die jedes Jahr ihren Urlaub in Finnland verbringen:

Zuerst der See in verschiedenen Ansichten 
das Holzhaus am Hang etwas tiefer die Sauna

jemand rudert in einem Boot die Kamera 
holt ihn ganz nah heran er ist nackt und bald sind

es die Frauen auch zuerst zuerst noch als weiße und 
braune Körper auf Decken auf Luftmatratzen

dann in Bewegung wie fliehend das Auge 
der Kamera ist immer auf ihnen während

die Landschaft grün verwischt dann auch die Männer 
ungeschickt schlenkernd was einzig fremd ist

an ihnen und schließlich alle mit sehr angezogenen 
Gesichtern beim Kartoffelschälen beim Essen

eine Horde von gutmütigen Wilden. Dann 
hattet ihr einen schönen Urlaub in Finnland.

Ein Punkt, zwei Sätze, ein ganzer Sommer. Perfekt. Harald Hartung ist ein Dichter, den es unbedingt zu lesen lohnt. Seine gesammelten Gedichte aus den Jahren 1957 bis 2004 sind im Jahre 2005 unter dem Titel Aktennotiz meines Engels in dem sehr rührigen Wallstein Verlag erschienen. Die Gedichtbände der siebziger Jahre waren noch in dem kleinen, aber feinen Neske Verlag in Pfullingen erschienen, der einmal James Joyce in Übersetzung herausbrachte (aber auch Heidegger und Ernst Jünger zu seinen Autoren zählte). Im Klappentext von Aktennotiz meines Engels heißt es: Jenseits jeden Marktgeschreis, unbeirrbar durch Tagesmoden, geht der Lyriker Harald Hartung seinen eigenen Weg. Seine Gedichte aus über vier Jahrzehnten sind ebenso raffinierte wie unaufdringliche Gebilde. Sie fassen die Wirklichkeit in Schnappschüsse, doch im Blitzlicht leuchtet ein Hintersinn auf. Sie holen die Historie als Krieg, Nachkrieg und Gegenwart in die persönliche Geschichte und zeigen die Parzen in der Fußgängerzone. In kunstvollem Übermut verwandeln sie alte Formen in neue Verfremdungen und lassen Trauer in Ironie, Witz in Empfindung umschlagen. Sie tarnen sich als "arme Kunst" und zeigen einen Reichtum der Töne. Besser kann man es nicht sagen.

Als die Frankfurter Allgemeine ihrem langjährigen Feuilletonisten vor zwei Jahren zum achtzigsten Geburtstag gratulierte, schrieb Felicitas von LovenbergAls 2005 mit „Aktennotiz meines Engels“ eine Summe seines bisherigen Werks erschien, konnte man sich nicht sattlesen: von federleicht hingetupften Reisebeobachtungen über sinnlich heraufbeschworene Kindheitserinnerungen an Rübenkraut auf Graubrot, Luftschutzkeller und das Kriegsende bis zu Spots auf Rätselhaftes und Bemerkenswertes der politischen und ästhetischen Entwicklung der Bundesrepublik reicht das Spektrum.

Lassen Sie uns mit dem Dichter einen Sprung zurück in die siebziger Jahre machen. Als es noch Parkplätze gab und das Benzin noch billig war. Und die Autobahnen noch leer waren. Als man noch für fünfhundert Mark einen alten ÄrrVier kaufen und ihn einer Frau mit Stupsnase und Sommersprossen schenken konnte. Aus dem Gedichtband Augenzeit von 1979 stammt das Gedicht Dem schnelleren Fahrer (zum 10. Geburtstag) von Harald Hartung:

Unsere Gespräche bei Hamburger
oder Pizza: Kaufst du einen Porsche
kauf ich mir einen Mercedes, wetten
wer schneller ist? wart noch ein wenig erst
schenk ich dir 'Alle Rennstrecken der Welt'
Du fährst sie mit dem Finger nach und fährst
wie Niki Lauda (nur vorsichtiger)
fährst mir davon
                         ich glaub es dir jetzt schon

Irgendwo klingt da noch Janis Joplins Oh Lord, won't you buy me a Mercedes Benz ? My friends all drive Porsches, I must make amends mit: Kaufst du einen Porsche kauf ich mir einen Mercedes. Dazu hätte ich natürlich gerne ein Video hier eingefügt, aber das Original mit Janis Joplin gibt es nirgends, nur Cover Versionen. Mercedes hat das sogar 1995 mal als commercial verwendet. Das ist zwar ein bisschen Pervers, aber irgendwie auch sehr komisch. Klicken Sie hier.

Träume von Autos, Träume vom schnellen Fahren. Die Dichter begleiten die automobile Welt seit mehr als einem Jahrhundert. Obgleich es die Maschinen schwer hatten, von den Dichtern besungen zu werden. Lord, send a man like Robbie Burns to sing the Song o' Steam, sagt der schottische Schiffsingenieur in Kiplings McAndrew's Hymn. Da sind wir noch im 19. Jahrhundert. Aber schon ein Jahrzehnt später schreibt Marinetti in seinem Manifest des Futurismus: Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ...  ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake. Doch mit den Träumen vom schnellen Fahren ist es heute zu Ende, so schöne Gedichte wie Shapiros Buick werden nicht mehr geschrieben. Was uns bleibt, ist der Stau:

Gestern im Stau
erzählten wir uns unser Leben zwei Männer und eine 
ehemals schöne Frau 
Versteht sich daß ein jeder vergaß 
was er als sein Leben ausgab und gestern 
verschwendete

Als Hartung achtzig wurde, legte er (wiederum bei Wallstein) den Essayband Der Tag vor dem Abend: Aufzeichnungen vor. Da hat er auch über seinen Sohn Stefan geschrieben, dem er den Gedichtband Arme Kunst gewidmet hat. Und für den er damals zum zehnten Geburtstag das Gedicht Dem schnelleren Fahrer geschrieben hat. Sein Sohn hat 2002 Selbstmord begangen. Das hat seinen Lebensabend verdüstert, aber er hat nicht aufgehört zu schreiben. Die Resignation, die viele Jüngere aus der Generation befallen zu haben scheint, teilt er nicht. Poesie ist Spiel, sagt Hartung. Das Spiel gibt uns die Freiheit aufzuhören, ohne uns zu verlieren. Der Spielende fragt niemals: "Für wen eigentlich?"

Spüren daß man weniger wird
Nicht zugeben daß man weniger wird
Sich dagegen auflehnen daß man weniger wird
Weniger werden
Aber nicht weniger sein
Schreiben als Lebensverlängerung. Je weniger du notierst, umso schneller stürzt die Zeit. Also weiter. Warum weiter?
Es fällt mir nicht schwer, hier aufzuhören.
Aufhören ist offenbar schwerer als anfangen.

Der Tag vor dem Abend: Aufzeichnungen ist ein manchmal ein Tagebuch, manchmal eine Rückerinnerung an Kriegs- und Vorkriegszeit. Voller Aphorismen. Obgleich der Autor da skeptisch ist: Wo die Aphorismen sich häufen, sinkt die Kraft der Beobachtung. Es ist nicht zu lang geworden: Ein Buch mit Aufzeichnungen darf nicht zu dünn sein, sagt der Freund. Ich weiß, antworte ich, ich weiß, und füge schnell diese Notiz hinzu. Und es enthält auch eine auf das Jahr 2008 datierte Absage an die Welt der Automobile: Wir sagen die Probefahrt ab, wir kaufen uns kein Auto. Einige Erheiterung und Erleichterung. In den Papierkorb mit den schönen Glanzpapier-Prospekten. Dabei hatten wir uns schon für Silbermetallic entschieden. Auch weil es praktischer ist. 

Wenn Sie Harald Hartung kennenlernen wollen, dann sollten Sie die Gedichte in Aktennotiz meines Engels lesen. Und Der Tag vor dem Abend: Aufzeichnungen lesen. Wenn Sie den Dichter in bewegten Bildern sehen wollen, dann können Sie hier ein Video von ➱2010 und eins von 2012 anschauen. Und vielleicht schreibe ich irgendwann einmal die Geschichte auf, wie mir der dänische König seinen neuen Jaguar Mark IX gezeigt hat. Falls Sie jetzt skeptisch gucken, die Geschichte ist wahr.


Neubauten


Am 1. Juli des Jahres 1938, also heute vor 72 Jahren, wurde in Deutschland eine neue Stadt gegründet. Der Name war Programm, aber ein wenig gewöhnungsbedürftig: Stadt des KdF-Wagens. Dem Namen wurde manchmal noch bei Fallersleben zugefügt. Seit 1945 heißt die Stadt nach dem alten Adelsschloss Wolfsburg. Die Wolfsburg gehörte den Grafen von Schulenburg, aber die müssen jetzt weichen für das, was der junge Architekt Peter Koller im Auftrag Hitlers plant. Eine ganze Stadt rund um das Volkswagenwerk. Ich war zu jung, um Nein zu sagen, hat er später entschuldigend gesagt. Er ist zwei Jahrzehnte später noch Stadtbaurat von Wolfsburg geworden.

Auch zu jung, um Nein zu sagen, ist der Hamburger Cäsar F. Pinnau, der die Neue Reichskanzlei einrichten wird und alles macht, was Albert Speer will. Er wird sich nie von den Nazis distanzieren, und wahrscheinlich ist es diese Haltung des jungen Vorzeigearchitekten der Nazis, die ihm in den fünfziger Jahren massenhaft Aufträge der deutschen Industrie verschafft. Pinnau hat auch eine Villa für Joachim Fest gebaut, der sich immer hymnisch über ihn geäußert hat. Das Hymnischste, das über Pinnau geschrieben wurde, stammt aus der Feder seine Gattin und heißt Der Sieg über die Schwere: Cäsar Pinnau in meinem Leben. Es gibt wenige Bücher von kunsthistorisch angehauchten Millionärsgattinen, die so unfreiwillig komisch sind.

Bevor man die schöne neue Welt bei Fallersleben bauen kann, muss man erst einmal Grundstücke kaufen (oder Besitzer enteignen). Einer der größten Brocken ist dabei der Großgrundbesitzer Günther Graf von der Schulenburg, der 2.000 Hektar und sein Stammschloss Wolfsburg an das Deutsche Reich verliert. Aber der Graf ist geschickt im Verhandeln. Für den Neubau seines Schlosses auf dem Familienbesitz in Neumühle in Sachsen-Anhalt (35 Kilometer südöstlich vom alten Schloss) erhält er Arbeitskräfte von der Arbeitsfront, die Reichsbahn befördert hinterher mit tausend Waggons des Besitz nach Neumühle. 

Kurz gesagt, die Nazis bauen und finanzieren dem Grafen ein Schloss, das genauso groß wie die Wolfsburg ist. Der letzte Bau eines Schlosses in Deutschland. Und das Ganze mit Zentralheizung, die Wolfsburg hatte 64 Öfen. 1942 ist es fertig geworden. Das ist das Jahr, in dem man die Arbeiten an der Stadt des KdF-Wagens eingestellt hat. Es gibt keinen Nachschub an Baumaterialien. Der Stadtplaner und Architekt Peter Koller geht freiwillig zur Wehrmacht.

Man kann das sehen, Schloss Wolfsburg (neu) ist massiv gebaut, man sieht es dem Schloss von außen nicht an, dass die Basis aus Stahlbeton ist. Wäre es nicht von dieser Massivität, dann hätte es wohl das Feuer, das die Rote Armee hier 1945 gelegt hat, nicht überstanden. Vor den Russen war die 5. US Panzerdivision hier, hat nicht so viel zerstört, hat aber die vier Pfauen gebraten, die die Mittagsruhe ihres Generals störten (man kann die Geschichte, von einem Augenzeugen erzählt, auf YouTube sehen). Die Schulenburgs sind da gerade zurück in ihr altes Schloss Wolfsburg geflohen, es ist ihnen doch lieber, in einer englischen Besatzungszone (statt der sowjetischen Besatzungszone) zu wohnen.

Der Architekt von Neumühle ist Paul Bonatz gewesen, beinahe alles, was er seit 1900 gebaut hat, steht noch. Und sieht auch noch nach achtzig Jahren gut aus, wie zum Beispiel der Stuttgarter Hauptbahnhof: Sieht das aus, als sei es 83 Jahre alt? Musste den  die Bahn unbedingt umbauen? Bonatz, der seit 1908 Professor in Stuttgart war, hat auch Staudämme gebaut und Autobahnbrücken für Fritz Todt. Massenhaft Brücken, pontifex maximus hat er sich einmal scherzhaft bezeichnet. Mit Hitler hat er sich überworfen, weil der ihm in den Bau des Münchener Hauptbahnhofs reinreden wollte. Adolf Hitler versteht ja viel von Architektur. Und von Malerei. Und vom Krieg. Warum musste dieses Land einen österreichischen Dilettanten, der nix gelernt hat, zum Führer machen? Bonatz, der niemals in der Partei war, verlässt Deutschland. Geht in die Türkei, baut die Oper von Ankara und wird da auch Professor. Das Schloss für die Schulenburgs ist das letzte, was er in Deutschland gebaut hat. Und das hat ihm Spaß gemacht, man kann das noch in seiner Autobiographie Leben und Bauen von 1950 spüren:

Mein letzter Bau in der Heimat war etwas gänzlich Unwahrscheinliches: Ein Grafenschloß mit allem Drum und Dran, wie es in alten Geschichten steht...1938 hatte die Arbeitsfront für die Volkswagenfabrik bei Fallersleben große Gelände des Grafen von der Schulenburg-Wolfsburg enteignet, dazu auch sein schönes altes Schloß Wolfsburg, das man nördlich der Bahnlinie sieht. Da schon damals beim Raubbau des Dritten Reiches alle Materialien knapp wurden, bestand der Graf beim Verkaufsvertrag auf der Bedingung, daß ihm die Arbeitsfront für den Bau eines gleichwertigen neuen Schlosses mit allen Materialien, Arbeitskräften und Transporten helfen müsse. Es war eine völlig unzeitgemäße Aufgabe, also eine Aufgabe nach meinem Herzen. Und dazu paßten die Bauherren...

Das Schloss Wolfsburg, in das die Schulenburgs 1945 zurückkehren, liegt ja nun nicht eigentlich an der Weser, aber es wird allgemein der Weserrenaissance zugerechnet. Man kennt seinen Baumeister nicht, es könnte Johann von Mehle sein, der 1586 das Rathaus in Alfeld an der Leine gebaut hat. Gesichert ist der Name des Hameler Steinhauers Johann Eddeler, der nach 1588 hier tätig war. Die Wolfsburg gehört zusammen mit den Schlössern in Celle und Gifhorn zu den nordöstlichsten Bauten der Weserrenaissance. Dieser Wikipedia Artikel, auf den der Link hinweist, ist ja ganz nett, aber wenn man wirklich einen Eindruck vom Ausmaß dieser regionalen Sonderrenaissance haben will, gibt es eigentlich nur ein Buch: Die Weserrenaissance von Herbert Kreft und Jürgen Soenke, 1964 im Verlag CW Niemeyer in Hameln erschienen. Es gibt hiervon auf dem Amazon Marketplace erstaunlich viele preisgünstige Exemplare. Erstklassige Schwarzweißphotographie, alles mit einem tilt-and-shift Objektiv (oder einer Linhof Technica) aufgenommen: keine stürzenden Linien. Und immer zu Tageszeiten photographiert, an denen keine Schlagschatten das Bild der Architektur beeinträchtigen. Als Architekturphotographie ist der Band ein optisches Fest. Und das Bauwerk da unten (die Wolfsburg) ist da natürlich auch in schönem Schwarzweiß abgebildet.

Also, falls sie jetzt das Sonderangebot für den Carribean Summer in der Autostadt Wolfsburg gebucht haben, vergessen Sie das alte Renaissanceschloss nicht. Irgendwie werde ich bei dem automobilen Disneyland, der Autostadt Wolfsburg das Gefühl nie los, dass Hitlers Träume doch wahr geworden sind. Vielleicht etwas anders, als er sich das in seinem Größenwahn gedacht hat.

Aimez-vous Brahms?


Wenn man heute den Namen Anthony Perkins (der heute vor achtzig Jahren geboren wurde) hört, dann denkt man natürlich sofort an Hitchcocks Psycho. Und dann läuft vor unserem inneren Auge gleich die Szene mit der Dusche ab. Aber mein Anthony Perkins war vor einem halben Jahrhundert ein anderer. Das war der schlanke schüchterne Mann, der in der Bar Diahann Carroll einen Whisky spendiert. Und sie fragt, was die Liebe ist. Denn er ist unsterblich verliebt in Ingrid Bergman, die ein wenig älter ist als er. Ein solches Thema war damals ein wenig risqué, heute würde das ja niemanden mehr aufregen.

Die literarische Vorlage für den Film stammte von Françoise Sagan, die Jahre zuvor durch ihren Roman Bonjour Tristesse berühmt (oder sollte man sagen berüchtigt?) geworden war. Es war einer der vielen französischen Literaturskandale, die französische Literatur lebt ja irgendwie von Skandalen. Ein halbes Jahrhundert später würde sich kaum jemand über die sexuelle Freizügigkeit des Jahres 1954 echauffieren, auf jeden Fall nicht in Paris. 

Für den Film Aimez-vous Brahms? war natürlich die Problematik ein wenig abgemildert, weil man das Ganze ja in Amerika verkaufen musste. Es war eine Hochglanzproduktion, alles war bestens besetzt, die Filmmusik von Georges Auric war erstklassig. Irgendwie hatte man bei Fahrstuhl zum Schafott etwas abgeguckt (allerdings ohne die Morde): viel Paris, viel Jazz, schöne Menschen, elegante Klamotten. Und schöne Autos, Yves Montand fährt einen Facel Vega, Anthony Perkins einen Triumph Sportwagen TR3 (mein Bruder hatte mal einen TR4, aus Kalifornien importiert, nach Jahrzehnten immer noch ohne Rost).

Aimez-vous Brahms? war für mich damals der perfekte Identifikationsfilm. Ich arbeitete daran, so auszusehen wie Anthony Perkins. Die Pullover und die Hemden hatte ich schon, die breiten Schultern noch nicht. Dann musste man noch schöne Frauen haben wie Yves Montand. Daran arbeitete ich auch. Und man brauchte natürlich ein englisches Cabrio, in dem Punkt haperte es bei meiner neuen Identität etwas.

Wie Paris aussah, wusste ich, da war ich schon einmal gewesen. Und seit Ende der fünfziger Jahre versäumte ich keinen französischen Film. Als erstes kaufte ich mir nach dem Kinobesuch eine Diahann Carroll Platte. Dann wünschte ich mir zu Weihnachten diese fette Brahms LP-Cassette der Deutschen Grammophon. War vorne Karajan drauf, nicht Brahms, damals war Karajan wichtiger als alles andere. Meine Karajan-Brahms Cassette (Editionsnummer 074) habe ich immer noch, und die Symphonie No. III (die immer wieder im Film vorkommt) kann ich heute noch dirigieren. Auf dem Photo des Covers trug Karajan einen zweireihigen gelben Lamamantel. So ein Teil hatte ich auch, bei Hans Kalich in der Böttcherstraße gekauft. War von der Firma Tiger of Sweden, die damals noch Luxuskleidung produzierte und nicht das modische Billigzeug wie heute, the Times They Are a-Changin’.

Was ich damals im Kino nicht merkte, Anthony Perkins singt auch in diesem Film Quand Tu Dors Pres De Moi, wieder zu der Melodie von Brahms Dritter Symphonie (Yves Montand hat das später auch auf einer Platte gesungen). Der Text dieses Liedes war von Françoise Sagan extra für den Film geschrieben worden. Ich wusste damals auch nicht, dass Anthony Perkins vor seiner Schauspielerlaufbahn Schlagersänger gewesen war. Das war auch gut so, dass ich das nicht wusste, es hätte meine jugendliche Identifikationsbildung erheblich gestört. Zum einen konnte ich Schlagersänger damals genau so wenig ausstehen wie heute, zum anderen: wenn es jemanden gibt, der nicht singen kann, dann bin ich das.

Diese junge Frau spielt nicht in Aimez-vous Brahms? mit, das Bild ist aus einer anderen Françoise Sagan Verfilmung, die Bonjour Tristesse heißt. Fand man damals toll. Und jugendgefährdend. Dass der Film so gute Kritiken bekommen hatte, hat mich immer gewundert. Ich habe ihn nur wegen Jean Seberg gesehen (und weil Juliette Gréco im Film sang). Erstaunlich bleibt, dass die Franzosen die Verfilmung der beiden Romane von Françoise Sagan den Amerikanern überlassen haben. Paris gehört jetzt den Amerikanern, nicht erst seit Ernest Hemingway die Hotelbar vom Ritz befreit hat. Nicht erst seit dem Film An American in Paris und all den amerikanischen Jazzmusikern, die jetzt in Paris sind (wie man es in Taverniers Film Round Midnight sehen kann). Und nun schickten sie auch noch ihre Schauspielerinnen nach Paris. Erst Audrey Hepburn, die in Funny Face Bonjour Paree singt, und nun kommt Jean Seberg. Wenig später war  Seberg in A bout de souffle zu sehen, da hatte die Nouvelle Vague begonnen. Wenn französische Filme für einen immer noch stilbildend sein sollten, musste man sich jetzt umstellen. Ich hielt mich an Truffaut, da gab es immer Eleganz und schöne Frauen, was braucht man mehr?

Ein Gedicht natürlich. Das fällt mir leicht. Françoise Sagan hat ihren Romantitel Bonjour Tristesse bei Paul Éluard gefunden; da zitieren wir doch mal das Original, das À peine défigurée heißt:

Adieu tristesse,
Bonjour tristesse.
Tu es inscrite dans les lignes du plafond.
Tu es inscrite dans les yeux que j'aime
Tu n'es pas tout à fait la misère,
Car les lèvres les plus pauvres te dénoncent
Par un sourire.
Bonjour tristesse.
Amour des corps aimables.
Puissance de l'amour
Dont l'amabilité surgit
Comme un monstre sans corps.
Tête désappointée.
Tristesse, beau visage.

Derby


Vor 231 Jahren wurde in England das erste Derby ausgetragen. Da haben zwei adlige Gentlemen eine Münze geworfen, nach dem Sieger sollte das Rennen heißen. Wir wissen alle, dass Edward Smith-Stanley, der 12. Earl of Derby, gewonnen hat. Von Pferderennen und dem Wetten auf den Sieger sind die Engländer ja noch immer begeistert (wenn keine Pferde da sind, tun es auch rennende Hunde). Und das Derby (das die Engländer ˈdɑrbɪ aussprechen, nur die Amerikaner und die Deutschen sagen dörrbi) in Epsom gibt es immer noch. Das Pferderennen in Ascot gilt allerdings als ein größerer gesellschaftlicher Höhepunkt. Obgleich der Triumph seines Pferdes beim Derby der Höhepunkt für Lord Rosebery war. 1869 hatte man ihn in Oxford rausgeschmissen, weil er sich mehr für Pferde als für sein Studium interessierte. Damals schwor er sich, mit einem seiner Pferde das Derby zu gewinnen, eine reiche Erbin zu heiraten und englischer Premierminister zu werden. Das sind gute Vorsätze eines ehemaligen Oxfordstudenten. Er heiratete Hannah de Rothschild (die reichste Frau Englands), wurde Premierminister und gewann das Derby dreimal. Mehr kann ein Engländer im Leben nicht erreichen.

Bei beiden Veranstaltungen können Sie natürlich den morning coat tragen, aber es sollte jetzt ein grauer Zylinder sein, den man dazu trägt. Wenn die Königin in ihrer Kutsche vorbeifährt, wird der natürlich abgenommen. Die Königin Victoria ist in Ascot einmal ausgebuht worden. Das war 1839 auf dem Höhepunkt der Flora Hastings Affäre. Die junge Königin hatte ihre Hofdame verdächtigt, schwanger zu sein. Dabei war die mit Leberkrebs todkrank. Dahinter steckte eine Intrige von Victorias besten Freundinnen, der Baronin Lehzen (die Victoria aus Coburg mitgebracht hatte) und der Marquise von Tavistock (die den afternoon tea erfunden hat). Selbst als die arme Lady Flora Hastings im Sterben lag, hat sich Victoria kaltherzig gezeigt. Da wird man dann auch schon mal in Ascot ausgebuht.

Aber auch beim Derby in Epsom hat es einen Skandal gegeben. 1913 warf sich die Suffragette Emily Davison auf der Rennbahn unter das Pferd des Königs. Mehrere Pfarrer fanden das so unsportlich, dass sie ihr ein kirchliches Begräbnis verweigerten. Dem Jockey war nichts passiert, aber das Ereignis hat ihn gezeichnet. Beim Tod der Suffragette Emmeline Pankhurst legte er einen Kranz auf das Grab to do honour to the memory of Mrs Pankhurst and Miss Emily Davison.

Die Queen Mom liebte das Derby. Ist da auch niemals ausgebuht worden. Süffelte immer einen Pink Gin, egal ob ihr Pferd gewann oder nicht. Wenn man das tut, wird man auch hundert Jahre alt. Sie las auch immer die Krimis, die ihr ehemaliger Jockey Dick Francis ihr verehrte. Als ich über Dick Francis schrieb, habe ich ja schon bekannt, dass ich keine Pferde mag. Die mögen mich einfach nicht.

Mein Vater mochte Pferde, vor dem Krieg ist er gerne geritten. Steht sogar in seinem Wehrpass: Reiter. Als ich klein war, hat er mich zu allen möglichen Pferdeschauen mitgeschleppt. Dank des Pferdeliebhabers Walther J. Jacobs (von Jacobs Kaffee) gab es in Bremen in der Vahr auch eine Galopprennbahn. Die gab es natürlich schon länger, der Bremer Rennverein datiert von 1857, aber nach dem Krieg wäre das ohne das Mäzenatentum von Jacobs mit dem Galopprennsport wohl nichts geworden. Heute heißen da noch Pferderennen und Preise nach Walther J. Jacobs. Nach seinem Sohn heißt eine ganze Universität Jacobs University in Bremen-Grohn. Musste natürlich ein englischer Name sein, weil man ja so international ist. Vorher war das eine ganz piefige Bundeswehrkaserne, davor eine Wehrmachtskaserne. Helmut Schmidt hat da die schönste Zeit seines Krieges verbracht. Und letztens hat mir ein pensionierter Oberst erzählt, dass er in Bremen-Grohn 1957 seinen Dienst begonnen habe: Die mochten uns da in Vegesack überhaupt nicht, die haben uns immer angepöbelt. Eines nachts, als ich auf dem Weg in die Kaserne war, haben mich drei große Kerle angegriffen und hin- und hergeschüttelt. Und einer hat gebrüllt: Ihr seid doch die teuersten Arbeitslosen der Bundesrepublik Deutschland. Ja, die Gegend ist da in Grohn nicht so fein. Aber jetzt wird sie natürlich von der Jacobs University geadelt.

Die Vahr ist ja ebenso wie Grohn ein Stadtteil, den die Bremer sonst eher meiden, gilt auch nicht als fein. Da hilft es auch nicht, dass das höchste Hochhaus der Gegend von Alvar Aalto entworfen wurde und unter Denkmalschutz steht. Aber die Vahr ist wegen der Pferderennbahn berühmt geworden. Auch sozusagen von Jacobs geadelt. Sind beim Kaffeehandel doch immer Verdienstspannen drin gewesen. Ich weiß gar nicht, warum man von den hanseatischen Kaufleuten immer von den Pfeffersäcken redet, Kaffeesäcke sollten die heißen. Ansonsten gibt es über die Vahr nicht so viel zu sagen. Außer dass hier der Borgward Traumwagen 1955 sein Ende an einem Baum fand. Am Lenkrad der Oberingenieur Fritz Hattesohl, neben ihm der Konstrukteur Erich Übelacker. Den beiden ist nichts passiert, aber das einzige Exemplar dieses bizarren Autos (Kennzeichen AE 21-0310), das in jedem Science Fiction Film eine Zierde gewesen wäre, war Schrott.

In neuerer Zeit ist die Vahr natürlich wegen des Romans Neue Vahr Süd (in dem Herr Lehmann vorkommt) berühmt geworden. Das darf nicht verschwiegen werden. Den Kultroman hat Hermine Huntgeburth, eine der besten Regisseurinnen, die wir in Deutschland haben, im letzten Jahr verfilmt. Kommen auch Pferde drin vor. Allerdings nicht auf der Vahrer Rennbahn sondern auf dem Sielwall. Und es sind keine Rennpferde, sondern Polizeipferde während der Sielwall Krawalle von 1980. Da hat man den Sielwall für den Film, wie die Presse berichtete, im Retrostil auf die 80er Jahre umgebaut. Brauchte man nicht viel zu machen, sieht da in der Gegend sowieso aus wie 1980.

Das einzig Gute, was uns (meiner Meinung nach) der Galopprennsport gebracht hat, ist eine kleine Perle der Kleinkunst von Wilhelm Bendow, in der die unsterbliche Zeile wo laufen sie denn? vorkommt. Loriot hat diesen Klassiker einmal illustriert. Klicken Sie doch hier einmal rein, mehr braucht man über Pferderennen wirklich nicht zu wissen. Die Sache mit der Perle der Kleinkunst habe ich mir nicht ausgedacht, das steht so auf meiner Wilhelm Bendow CD, die immer noch lieferbar ist.