Dienstag, 8. Oktober 2024

Blechgöttin

Am 8. Oktober 1955 stellte die französische Firma Citroën auf dem Pariser Autosalon ein neues Automobil vor, das ganz anders aussah als die Modelle, die man zuvor gebaut hatte. Angeblich sollen am Abend des ersten Tages der Show 12.000 Bestellungen eingegangen sein, aber das ist wohl ein kleines Märchen der Werbefuzzis. Der Firmengründer André Citroën hat diesen Tag nicht mehr erlebt, aber er hatte 1932 den italienischen Designer →Flaminio Bertoni eingestellt, der das Gesicht der Marke für ein Vierteljahrhundert prägen sollte und für das Design der DS 19 verantwortlich war.

Bertoni hatte für Citroen 1934 den Traction Avant und 1948 den Deux Chevaux entworfen (der natürlich mehr als zwei PS hatte, das mit den zwei Pferden bezieht sich auf die Steuerklasse). Der Citroen Traction Avant war ein Auto, das den schönen Beinamen Gangsterauto hatte. Wir kennen es auch vielen französischen Gangsterfilmen. Und man konnte auch aus la traction das Wort l'attraction bilden. Aber nun kommt die neue Zeit. Jetzt konnte sie jeder am 8. Oktober 1955 sehen: die Göttin. Aus der internen Modellbezeichnung DS wurde La Déesse

Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake, hieß es ein halbes Jahrhundert zuvor in Marinettis Manifest des Futurismus. Das da links ist Marinetti mit seinem neuen Auto, das überhaupt nichts von der Nike von Samothrake an sich hatte - und er konnte auch überhaupt nicht damit umgehen. Zwischen den Worten des Dichters und der automobilen Realität sind doch Welten.

Obgleich das alte schwarze Gangsterauto für alle französischen Krimis toll war, kommt jetzt dank Flaminio Bertonis Design die ganz neue Zeit - passend zum nouveau roman und der nouvelle vague. Keine großen Rohre mehr, wie an Marinettis idealem Rennwagen. Stattdessen Stromlinie und Hydropneumatik (so etwas Ähnliches hatte der Borgward später auch). Und die Scheinwerfer, an die Lenkung gekoppelt, leuchteten um die Ecke. Roland Barthes hat in seinem Buch Mythologies eine Liebeserklärung an die Déesse gerichtet, wofür ihm die Firma Citroen sofort ein Exemplar hätte schenken müssen.

Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gothischen Kathedralen ist. Ich meine damit: Eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet. Der neue Citroën fällt ganz offenkundig insofern vom Himmel, als er sich zunächst als ein superlativisches Objekt darbietet. Man darf nicht vergessen, dass das Objekt der beste Bote der Übernatur ist: es gibt im Objekt zugleich eine Vollkommenheit und ein Fehlen des Ursprungs, etwas Abgeschlossenes und etwas Glänzendes, eine Umwandlung des Lebens in Materie (die Materie ist magischer als das Leben) und letztlich ein Schweigen, das der Ordnung des Wunderbaren angehört. Die „Déesse“ hat alle Wesenszüge (wenigstens beginnt das Publikum, sie ihr einmütig zuzuschreiben) eines jener Objekte, die aus der Welt herabgestiegen sind, von denen die Neomanie des 18. Jahrhunderts und die unserer Science-Fiction genährt wurden: Die Déesse ist zunächst ein neuer Nautilus.

Bei Marinetti war es noch die Nike von Samothrake, jetzt wird das Automobil zur gotischen Kathedrale. Von den Schriftstellern können die Werbeabteilungen noch viel lernen. Roland Barthes hat viele amüsante und kluge Dinge geschrieben, ich weiß nicht, ob ihn das schon wirklich zu einem Philosophen macht. Aber dieser ganze Strukturalismus mit signifiers und signs klingt natürlich gut. For Thursday, you should read the Roland Barthes essay, "The Death of the Author." In your comments I'd like you to tell me what Barthes meant to imply when he wrote, "The birth of the reader must be at the cost of the death of the Author." In case you're curious about how our man Roland actually died, here's a song from Colson Whitehead's 2001 book, "John Henry Days": 

Roland Barthes got hit by a truck
That's a signifier you can't duck
Life's an open text
From cradle to death. 

Das schreibt ein Blogger (ein amerikanischer Doktorand) und gibt seinen Lesern Hausaufgaben. Wollen Sie auch mal eben bis Donnerstag den Essay The Death of the Author lesen? Als Roland Barthes das geschrieben hatte, kursierten in Paris Witze, dass er jetzt in der Métro betteln würde, weil ihm seine Verlage keine Tantiemen mehr bezahlen. Weil er den Autor ja für tot erklärt habe. Aber Roland Barthes ist wirklich eines Tages gestorben, weil er von einem kleinen Wäschelaster angefahren wurde, es wäre noch tragischer gewesen, wenn es eine Citroen Déesse gewesen wäre. Zum Beispiel diese hier, von Pablo Picasso bemalt.

Dieses kleine Gedicht Roland Barthes got hit by a truck kommt in dem Roman John Henry Days von Colson Whitehead (übrigens ein sehr lesenswerter Roman) wirklich vor, auf der letzten Seite von Teil V. Ich weiß nicht, ob es wirklich von Colson Whitehead ist, ich kannte es schon, bevor ich den Roman gelesen hatte. Blöde Akademikerwitze kursieren immer sehr schnell, mein Seminar Englische Lyrik hat noch nicht angefangen, da hat schon ein Anonymus T.S. Eliot is an anagram for toilets an die Wandtafel geschrieben.

Als die Déesse neu war, schaute man gebannt zu, wie sie sich absenkte, nachdem der Fahrer den Wagen verlassen hatte. Allein, mit der Zeit verlor diese Neuigkeit ihren Reiz, und so toll sah sie ja auch nicht aus. Mit einem Facel Vega konnte die Göttin nun überhaupt nicht konkurrieren. Die Firma Facel Vega gehörte Jean Daninos, der 1928 bei Citroen als Ingenieur angefangen hatte und auch an der Entwicklung des Modells Traction Avant beteiligt gewesen war. Sein Bruder Pierre Daninos kommt hier schon in dem Post Engländer vor. Albert Camus hat mehrere Traction Avant Modelle besessen, er war damit zufrieden. Als er den Nobelpreis bekam, rief ihn sein Autohändler an und wollte ihm eine Déesse verkaufen. 

Er blieb dem Modell Traction Avant treu, er liebte das langsame Fahren. Er hat seinen Autos auch Namen wie Desdemona oder Penelope gegebenGestorben ist er in dem Facel Vega seines Verlegers Gallimard. Er hatte eine Bahnkarte für die Rückreise nach Paris von seinem gerade gekauften Landsitz im südfranzösischen Lourmarin in der Tasche. Aber dann bot ihm sein Verleger Gallimard eine Mitfahrt  mit seinem gerade gekauften Typ FV3B an. Camus hätte die Bahn nehmen sollen.

Niemand von uns Teenies, für die Autos in den fünfziger Jahren alles bedeuteten, wäre auf die Idee gekommen, den Citroen mit einer gotischen Kathedrale zu vergleichen. Einen Facel Vega mit einer griechischen Göttin schon eher. Und in den französischen Gangsterfilmen (wie hier in Jean-Pierre Melvilles Bob le flambeur) sah ein alter Citroen Traction Avant mit der Selbstmördertür einfach besser aus als die französische Flunder.

Das Zitat von Barthes über die Déesse geht folgendermaßen weiter: Deshalb interessiert man sich bei ihr weniger für die Substanz als für ihre Verbindungsstellen. Bekanntlich ist das Glatte immer ein Attribut der Perfektion, weil sein Gegenteil die technische und menschliche Operation der Bearbeitung verrät: Christi Gewand war ohne Naht, wie die Weltraumschiffe der Science-Fiction aus fugenlosem Metall sind. Die DS 19 erhebt keinen Anspruch auf eine völlig glatte Umhüllung, wenngleich ihre Gesamtform sehr eingehüllt ist, doch sind es die Übergangsstellen ihrer verschiedenen Flächen, die das Publikum am meisten interessieren. Es betastet voller Eifer die Einfassungen der Fenster, es streicht mit den Fingern den breiten Gummirillen entlang, die die Rückscheibe mit ihrer verchromten Einfassung verbinden. Wenn die Franzosen mal gedanklich abheben, dann aber richtig. Ich finde das mit dem Gewand Christi und den Raumschiffen der Science Fiction ein klein wenig gewagt. Und wieder einmal entfernt sich der Mann, der sechzig Jahre bei Mammi gelebt hat, in seinen Gedankenflügen ein bisschen von der Erde. Ich sage jetzt über französische Automobile der fünfziger und sechziger Jahre (und siebziger etc) nur ein einziges Wort: Spaltmaße!

Roland Barthes hat in den Jahren 1954 bis 1956 monatlich für die Zeitschrift Les Lettres Nouvelles geschrieben. Er hatte gerade den Sprachphilosophen de Saussure gelesen, und dekonstruiert jetzt die Mythen des Alltags mit Hilfe von de Saussure, Husserl, Freud und Marx. Die Franzosen haben es ja gerne kompliziert, William of Ockhams entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem gilt bei ihnen nichts. Und doch entgeht Barthes bei allen geistreichen Überlegungen das wahre Wesen des französischen Automobils. Dafür braucht man nicht so viele Wörter wie Barthes in The New Citroen. Da genügt wiederum eins: Rost. Heißt auf Französisch rouille, ist aber das Gleiche.

Das stand hier schon 2010, in meinem ersten Jahr als Blogger. Da kannten Sie mich vielleicht noch nicht. Ich habe den Text natürlich überarbeitet, ich stelle ihn deshalb ein, weil er mir immer noch gefällt.