Heute vor fünfundvierzig Jahren wurde die erste Folge einer neuen Krimireihe ausgestrahlt, die Tatort hieß. Damals war das eine aufregende Sache, es gab noch nicht diese Schwemme von Krimis im Fernsehen wie heute. Wo man jeden Tag mindestens ein halbes Dutzend Krimis sehen kann. Von der Sendung Stahlnetz (Drehbücher von Wolfgang Menge, Regie Jürgen Roland) gab es 22 Folgen in zehn Jahren. Langsam und betulich. Keine Schießereien, keine Blutbäder. Alles in schwarz-weiß. Mit dem ersten Tatort kam Farbe in das deutsche Krimileben.
Und es kam ein wiedererkennbarer Vorspann, der bis heute nicht geändert wurde. Lediglich ein gewisser Til Schweiger, gerade als Hauptkommissar bei der Hamburger Mordkommission eingestellt, ließ über den Vorspann verlauten: Den würde ich gerne ändern. Also das finde ich irgendwie dämlich. Den Vorspann, der ist jetzt wirklich outdated. Und da werde ich für kämpfen, dass bei meinem ersten "Tatort" ein anderer Vorspann läuft. Die Betonung liegt auf dem Wort kämpfen, Til Schweiger kämpft immer.
Das vierzigste Jubiläum des Tatorts ist mir nicht entgangen, ich schrieb heute vor fünf Jahren den Post Tatort. In einem Jahr wird es wieder einen Tatort geben (den tausendsten), der Taxi nach Leipzig heißt, aber ich glaube nicht, dass ich darüber schreiben werde. Heute vor einer Woche wurde der Tatort Der große Schmerz von der ARD abgesetzt. Es war ein Tatort mit Til Schweiger (und Helene Fischer), der der erste Teil eines Dreiteilers war. Auch wenn Walter Richter, der den Hamburger Hauptkommissar Trimmel in dem Tatort Taxi nach Leipzig (➱hier ganz zu sehen) spielt, hier mit einer Pistole bedroht wird, spielen Waffen in diesem Tatort eigentlich keine Rolle.
Das ist in Der große Schmerz etwas anders. Auch hier sehen wir einen Hamburger Hauptkommissar, aber wie hat er sich verändert. Lederjacke statt Anzug. Und Pistole statt Zigarre. Von der Pistole wird Nick Tschiller alias Til Schweiger auch Gebrauch machen. Da können wir sicher sein. Man kann kein Gewehr auf die Bühne stellen, wenn niemand die Absicht hat, einen Schuss daraus abzugeben, hat Tschechow gesagt. In seinem ersten Tatort Willkommen in Hamburg (damals der teuerste Tatort aller Zeiten) gab es sieben Leichen, ein Jahr später in Kopfgeld schon neunzehn Leichen. Und teurer war der Tatort auch. Wahrscheinlich werden hier die Gagen nach dem Bodycount Prinzip gezahlt.
Das war aber noch nicht genug, in dem wegen der Ereignisse in Paris nicht gesendeten Tatort Der große Schmerz gab es siebenundvierzig Tote. Helene Fischer spielt darin eine Killerin - uns bleibt nichts erspart. Die Produzenten waren wahrscheinlich traurig, dass der Filmtitel Leichen pflastern seinen Weg schon vergeben war. Siebenundvierzig (oder waren es fünfzig) Tote gab es auch schon in dem Tatort Im Schmerz geboren mit Ulrich Tukur. Dafür gab es den Grimme Preis. Weshalb man für so etwas den Grimme Preis bekommt, weiß ich wirklich nicht. Vielleicht ist es doch keine so dolle Sache, auf der ➱Vorschlagsliste für den Grimme Preis zu stehen.
Nach Willkommen in Hamburg sagte der NDR Intendant Lutz Marmor (der jetzt auch der Vorsitzende der ARD ist) auf die Frage des Hamburger Abendblatts, ob ihm der Til Schweiger Tatort gefallen hätte: Ich fand ihn gelungen. Dass so viele Menschen zugesehen haben, insbesondere auch Jüngere, hat mich sehr gefreut. Auch ein Erfolgsformat wie der 'Tatort' braucht mal einen neuen Impuls. Deshalb haben wir bei diesem "Tatort" bewusst auf Action und einen Star wie Til Schweiger gesetzt, der sonst nicht in TV-Produktionen zu sehen ist. Lutz Marmor verdient 291.000 Euro. Er beweist damit wieder einmal, dass die Gehälter der Intendanten heutzutage in einem umgekehrten Verhältnis zur Qualität des Senders stehen. Die Formel stimmt nicht immer, zwar bekommt Tom Buhrow als Intendant des Westdeutschen Rundfunks 367.232 Euro im Jahr, aber das Programm des WDR ist auch besser.
Wenn man sich über diese Gehälter aufregt, dann sollte man einmal einen Blick auf die Gehälter der Kommissare im Fernsehen werfen. Die werden nämlich von den Sendeanstalten nicht wie bei der Polizei nach A12 besoldet (eine Besoldungsgruppe unter dem Studienrat), sondern bekommen, wenn sie einen großen Namen haben, so etwas wie 100.000 bis 120.000 Euro pro Folge. Til Schweiger bekommt mehr, man nimmt an, dass er 300.000 Euro pro Tatort erhält. Und bekommt vom NDR noch einen Rentenvertrag. Auf die Frage von Spiegel Online: Um noch mal auf Til Schweiger zurückzukommen: Es soll ja nur eine 'Tatort'-Folge pro Jahr mit ihm geben. Hat man sein Engagement eigentlich auf eine bestimmte Zeit begrenzt? antwortete Christian Granderath: Einen Gehirntumor, wie ihn Ulrich Tukur für seine Rolle im hessischen "Tatort" als Ausstiegsmöglichkeit mit sich herumträgt, werden wir Schweiger ganz bestimmt nicht andichten. Falls er ein biblisches Alter wie Jopie Heesters erreicht, kann er gerne auch noch im Jahr 2068 in Hamburg ermitteln.
Für den Drehbuchautor Christoph Darnstädt, dessen Mutter Kinderbücher schrieb, ist Til Schweiger ein Held. Der Mediendienst Teleschau urteilte über Der große Schmerz: Für Männer mit überdurchschnittlich hohem Testosteronspiegel und postpubertären Gewaltfantasien ist das alles ganz fraglos ein Fest. Alle anderen schalten besser beizeiten das Hirn aus. Und das Fernsehen gar nicht erst an. Allerdings ist das alles mit dem Geld der Hörer bezahlt worden, und man wagt es überhaupt nicht, das Wort vom Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender auszusprechen. Vom Volk bezahlte Verblödung betitelte vor Jahren Jens Jessen seinen Artikel in der Zeit.
Aus Respekt vor den Opfern der grausamen Anschläge von Paris haben wir die Premiere der 'Tatorte' mit Til Schweiger auf das kommende Jahr geschoben, sagte der NDR Programmdirektor Fernsehen Frank Beckmann. Es passt einfach nicht in diese Wochen, eine Krimireihe zu zeigen, in der es auch um einen terroristischen Angriff geht. Und statt jetzt einfach mal sein großes Maul zu halten, musste Til Schweiger wenig später dem Stern sagen: Die Terror-Anschläge in Paris haben mich unglaublich wütend, traurig und fassungslos gemacht. Ich finde aber, wir sollten uns nicht von Terroristen diktieren lassen, wie wir leben sollen, uns nicht unsere Freiheit rauben lassen, und dazu gehört auch die, was wir im Fernsehen zeigen.
In Taxi nach Leipzig gab es keine Schießereien, es gab nur die traurige Geschichte von einem toten Kind. Die Vorlage von Taxi nach Leipzig war ein Roman von Friedhelm Werremeier, der zuerst in der Krimireihe von Richard K. Flesch bei Rowohlt erschienen war (zuerst noch unter Werremeiers Pseudonym Jacob Wittenburg). Den Hauptkommissar Trimmel hatte der NDR schon einmal auf den Bildschirm gebracht, der Fernsehfilm hieß Exklusiv! (nach dem Roman Ich verkaufe mich exklusiv von Friedhelm Werremeier aus dem Jahr 1968). Die Erstausstrahlung des Films fand am 26. Oktober 1969 in der ARD statt. Exklusiv! wurde nachträglich in die Tatort Serie eingereiht und als Folge 9 der Reihe im Juli 1971 ausgestrahlt. In Exklusiv! trägt Kommissar Trimmel schon sein blaues Hemd, das ihn mit diesem Gangsterlook ein wenig wie Jean Gabin in Pépé le Moko aussehen lässt.
Taxi nach Leipzig war eine Romanverfilmung. Das ist außer Mode gekommen (die Kluftinger Krimis haben keinen Platz im Tatort bekommen), heute hat man Drehbuchautoren. Einen habe ich mal kennengelernt. Ich sah den weißen TR4, den mein Bruder gerade verkauft hatte, immer bei meinem Bierhändler stehen. Als ich das meinem Bruder sagte, brachte er mit einen großen Karton mit Ersatzteilen und das Owner's Manual und sagte mir, ich solle das mal dem neuen Besitzer bringen. Der Bierhändler wusste, wo der Mann wohnte. Leider wohnte der im vierten Stock, der Karton mit den Ersatzteilen war sehr schwer. Wir hatten dann aber einen netten Nachmittag. Er hatte gerade sein zweites Tatort Drehbuch an die ARD verkauft und hatte sich diesen TR4 gegönnt, den auch Catherine Deneuve in Polanskis Ekel fährt (und den auch die englische Polizei einmal als Dienstwagen einsetzte). Damals kannte ihn noch niemand, heute ist er groß im Geschäft.
Und da wir gerade bei Automobilen sind: in den deutschen Tatorten gibt es wenig Exotisches. Trimmel fährt einen Ford Taunus, das passt zu ihm. Exotischer ist da schon der weiße Porsche 356 C, den der Zollfahnder Kressin fährt. Aber der ist wahrscheinlich nur ausgeliehen. Ulrich Tukur fährt mal einen Ro80, doch da hört es auch schon auf.
So schöne Autos wie Columbo (Peugeot 403 Cabriolet) oder Morse (Jaguar) haben sie alle nicht, nur wenn sie sich mal was aus der Asservatenkammer leihen. Es wäre schön wenn man Til Schweiger einen Opel Manta als Dienstwagen gegeben hätte, denn in dem Film Manta, Manta, da war er ganz er selbst. In der Fernsehwerbung macht Schweiger Autos kaputt. Er ist der Nachfolger von Dieter Bohlen als Gesicht der VHV Versicherung.
Alle Schauspieler in Taxi nach Leipzig kamen vom Theater (auch Günther Lamprecht, der in einer Nebenrolle als Vopo gleich am Anfang des Films zu sehen ist). Walter Richter war Staatsschauspieler und Kammerschauspieler in München. Hans Peter Hallwachs kannte ich noch von der Bühne in Bremen zu Zadeks Zeiten, mein witziges Erlebnis mit Hallwachs und Bruno Ganz bei der Hamlet Aufführung habe ich schon in den Post Richard Lester hineingeschrieben
Und dann war da noch Renate Schroeter, für die schwärmte ich damals sowieso. Es ist sicher etwas anderes, wenn richtige Schauspieler von der Bühne in einem Fernsehfilm auftreten, statt der üblichen bekannten Seriendarsteller, die nur im Fernsehen groß geworden sind. Taxi nach Leipzig war der erste Film des studierten Juristen Peter Schulze-Rohr, der zuvor Chefdramaturg beim Südwestfunk und Redakteur und Regisseur beim NDR gewesen war. Dies war solides deutsches Handwerk, ohne Blutbad und Leichen. Aber so sind die Filme der Serie Tatort leider nicht geblieben.
Ist der Krimi ein Psychogramm der Gesellschaft? Siegfried Kracauer hat es mit seinem Buch From Caligari to Hitler: A Psychological History of the German Film vorgemacht, dass man Filme so lesen kann. Es wäre eine interessante Sache, einmal die Tatort Folgen aus den letzten 45 Jahre auf ihre transportierte Ideologie, ihre Darstellung der Gesellschaft und ihre Helden zu untersuchen. In Taxi nach Leizig konnte man ein Deutschland von 1970 durchaus wieder erkennen, wenn man so will, sogar zwei Deutschlands.
Nicht jedes Drehbuch, jede Geschichte, jedes Thema ist gleich gut oder reizt einen. Aber wenn man den Tatort mit anderen Serien vergleicht, ist er immer noch deutlich realistischer, vielfältiger und politischer. Ob Kindesmissbrauch, Asylrecht, Kriegseinsatz in Afghanistan, der Umgang mit Neuen Medien, die alternde Gesellschaft oder Fußball – was politisch relevant ist, kommt auch vor. Und zwar nicht nur in den schicken Münchener Gegenden, die man von Derrick kennt sondern in Ludwigshafen am Rhein, in Münster, Kiel, Berlin oder München. Das ist schon ziemlich konkurrenzlos. Der Mann, der hier über die Sendung Tatort redet, ist kein Intendant oder Programmdirektor. Er ist Politiker und ist sehr, sehr stolz auf seine Sammlung von Tatort Sendungen, er hat sie alle. Ansonsten sind seine intellektuellen Interessen eher gering. Er ist einer von uns.
Tatort Sendungen sind natürlich nicht die Realität, die Reihe ist ein Kunstprodukt mit eigenen Regeln. Wie Detektivromane. In ihrem Buch The Long Week-End haben Robert Graves und Alan Hodge (der Ghostwriter von Winston Churchill) den wunderbaren Satz Detective novels, however, were no more intended to be judged by realistic standards than one would judge Watteau's shepherds and shepherdesses in terms of contemporary sheep-farming mit leichter Hand dahingeworfen. Auch der Tatort hat nicht mit der wirklichen Polizeiarbeit und dem wirklichen Verbrechen zu tun, wenn Sie den Artikel Der Fall 'Tatort' von Sabine Rückert lesen, wissen Sie alles darüber.
Tatort: ein Kunstprodukt mit eigenen Regeln. Wir können auch den Begriff des Genres ins Spiel bringen. Und den schönen Satz von Raymond Chandler zitieren: To accept a mediocre form and make something like literature out of it is in itself rather an accomplishment. Das wäre es doch - den Tatort als Form akzeptieren wie er ist und ihn filmisch und schauspielerisch besser zu machen. Denn das Genre hat sich totgelaufen. Oder wie Gustl Bayrhammer (der den Hauptkommissar Veigl spielte) bei seinem Abgang so treffend sagte: Des Krimifach, des is doch scho lang a abg’mahte Wies’n. Doa passiert nix mehr. Doch Qualität wollen die Intendanten und Programmdirektoren nicht, sie setzen lieber auf den Genremix (ich habe darüber schon böse Worte in dem Post Inspector Gently gesagt), die Hybridisierung des Genres.
Das Fernsehen mit seinen zu hoch bezahlten Intendanten setzt auf Quote, und Quote macht man nicht, wenn man Qualitätsfernsehen macht. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass der Bruce Willis Verschnitt Til Schweiger noch 2068 ermittelt, aber vorerst bringt er Quote. Wegen der vielen Leichen. Da greift ein Kommissar schon mal zur Panzerfaust, der typischen Dienstwaffe von Hamburger Hauptkommissaren, damit das mit dem Bodycount in den Programmzeitschriften auch stimmt.
Die Rachetragödien des elisabethanischen und jakobäischen Zeitalters brachten sicher auch Zuschauer. Sie kommen in den letzten Jahren vermehrt auf englische Bühnen (Although it is four centuries since revenge tragedies like this first appeared on stage, they have lost little of their charge. And it seems we can't get enough of them, schrieb der Guardian). Und kommen im Film besonders gut rüber, wenn man sie noch mit einer nackten Charlotte Rampling (in Addio, fratello crudele, einer italienischen Verstümmelung von 'Tis Pity She's a Whore) garnieren kann. Der englische Regisseur Declan Donnellan, der zahlreiche dieser Stücke inzeniert hat (auch 'Tis Pity She's a Whore), sagte dazu: A really good horror reminds you that you're not just the victim; you're also the monster. Psycho is a great film because of the very subtle shifts of identification. You're not just the woman who is murdered in the shower, you're also the murderer. It's entertainment at the deepest level.
Die Schamfrist der ARD, der Respekt vor den Opfern der grausamen Anschläge von Paris, geht im Januar zu Ende. Dann kann man die ersten beiden Teile von Til Schweigers Gemetzel sehen. Und wer es bis dahin nicht aushält, der kann sich ja all die Snuff, Gore und Slasher Filme ansehen, die das Internet zu bieten hat. Wir sollten uns nicht von Terroristen diktieren lassen, wie wir leben sollen, uns nicht unsere Freiheit rauben lassen, und dazu gehört auch die, was wir im Fernsehen zeigen. Goya hat gesagt El sueño de la razón produce monstruos, der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.
Lesen Sie auch: Tatort, Derrick, Inspector Gently. Die Sendung Tatort wird auch noch erwähnt in den Posts: Inspector Lewis, Endeavour, Maj Sjöwall, Sjöwall Wahlöö, Henning Mankell, Nicolas Freeling, Wankelmotor, Anatomie, August von Platen, Ludwigslust, 25 Jahre, Heinrich Vogeler, Ingeburg Thomsen, Tulpen